Unter Generalverdacht – Artikel von Sylvia-Yvonne Kaufmann, MdEP und Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments im Neuen Deutschland vom 30.09.2005
Wer telefoniert heute nicht mehrfach täglich oder surft durchs Internet. Aber ist auch bekannt, was mit den entstehenden Daten geschieht bzw. geschehen soll? Bislang werden Rufnummer, Dauer und Uhrzeit vom Anbieter für ca. 80 Tage allein zur Rechnungslegung gespeichert. Ginge es aber nach den Plänen Frankreichs, Großbritanniens, Irlands und Schwedens würden künftig alle bei Kommunikation über Telefon oder Internet anfallende Daten bis zu drei Jahren erfasst. Bei einer einfachen Verbindung – unabhängig davon, ob sie zu Stande kommt oder nicht – sind das Rufnummer und Adresse des Gesprächspartners, Dauer und Art der Kommunikation (Telefonat, Fax, SMS), Gerätekennung und beim Handy zusätzlich der Aufenthaltsort. Auch alle Internetprotokolle, inklusive E-Mails, sollen aufgehoben werden. Über jede und jeden könnten Bewegungsprofile erstellt werden. Nicht betroffen seien Kommunikationsinhalte, so heißt es jedenfalls. Dennoch fiele in einem Jahr ein gigantisches Datenvolumen von 20 – 40.000 Terabyte an. Dies entspräche 4 Millionen Kilometer voller Aktenordner oder zehn Aktenbergen, die jeweils von der Erde bis zum Mond reichten.
Wozu dieser gefährliche und zudem teure Irrsinn einer Vorratsspeicherung von Kommunikationsdaten? Sie soll polizeilichen Ermittlungen dienen – zur Vorbeugung, Untersuchung, Feststellung und Verfolgung schwerer Straftaten, insbesondere des Terrorismus. Doch das ist pure Illusion, denn ein Suchdurchlauf nach einem Verdächtigen würde mit der vorhandenen Technik derzeit etwa 50 bis 100 Jahre dauern. Selbst die USA verzichteten nach dem 11. September auf derartige Abenteuer. Das eigentliche Problem ist aber nicht mangelnde Effizienz. Vielmehr ist es der mit der Datenbevorratung verbundene eklatante Eingriff in die Grundrechte von Bürgerinnen und Bürgern. Diese totale Speicherung von Telefon- und Internetdaten läuft im Kern darauf hinaus, alle Menschen in der EU unter einen Generalverdacht zu stellen.
All dies waren wohl Gründe, weshalb es der britischen EU-Präsidentschaft nicht gelang, im Rat der Innen- und Justizminister die erforderliche Einstimmigkeit für einen Rahmenbeschluss herbeizuführen. Der Bundestag und das niederländische Parlament hielten ihre Innenminister davon ab, ihm zuzustimmen. Jetzt lehnte auch das Europäische Parlament den Vorstoß der vier EU-Staaten ab. Er sei nicht verhältnismäßig, greife tief in den Schutz der persönlichen Daten des einzelnen und in seine Privatsphäre ein. Verletzt werde Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, weil unter anderem nicht das legitime Ziel erkennbar sei, dem die Ratsinitiative dienen soll. Außerdem führe er nicht zum gewünschten Erfolg. Vehement eingefordert wurde das Mitentscheidungsrecht des Parlaments.
Aber die Kuh ist durch dieses Votum nicht vom Eis. Bereits am 21. September legte Innen- und Justizkommissar Frattini einen Vorschlag der EU-Kommission vor. Dieser sieht zwar eine Mitentscheidung des EU-Parlaments vor, knüpft inhaltlich jedoch nahtlos an das Vorhaben der vier EU-Staaten an, lediglich die Speicherdauer wurde nach unten korrigiert. Allerdings blieb auch die Kommission den Nachweis schuldig, durch Vorratsdatenspeicherung könne organisierte Kriminalität und Terrorismus wirksamer bekämpft werden. Beim EU-Datenschützer Hustinx stieß der Vorschlag deshalb auf massive Kritik. Bis Jahresende soll im Parlament erneut abgestimmt werden. Ausgang ungewiss.
veröffentlicht leicht gekürzt in Neues Deutschland am 30. September 2005
Wer telefoniert heute nicht mehrfach täglich oder surft durchs Internet. Aber ist auch bekannt, was mit den entstehenden Daten geschieht bzw. geschehen soll? Bislang werden Rufnummer, Dauer und Uhrzeit vom Anbieter für ca. 80 Tage allein zur Rechnungslegung gespeichert. Ginge es aber nach den Plänen Frankreichs, Großbritanniens, Irlands und Schwedens würden künftig alle bei Kommunikation über Telefon oder Internet anfallende Daten bis zu drei Jahren erfasst. Bei einer einfachen Verbindung – unabhängig davon, ob sie zu Stande kommt oder nicht – sind das Rufnummer und Adresse des Gesprächspartners, Dauer und Art der Kommunikation (Telefonat, Fax, SMS), Gerätekennung und beim Handy zusätzlich der Aufenthaltsort. Auch alle Internetprotokolle, inklusive E-Mails, sollen aufgehoben werden. Über jede und jeden könnten Bewegungsprofile erstellt werden. Nicht betroffen seien Kommunikationsinhalte, so heißt es jedenfalls. Dennoch fiele in einem Jahr ein gigantisches Datenvolumen von 20 – 40.000 Terabyte an. Dies entspräche 4 Millionen Kilometer voller Aktenordner oder zehn Aktenbergen, die jeweils von der Erde bis zum Mond reichten.
Wozu dieser gefährliche und zudem teure Irrsinn einer Vorratsspeicherung von Kommunikationsdaten? Sie soll polizeilichen Ermittlungen dienen – zur Vorbeugung, Untersuchung, Feststellung und Verfolgung schwerer Straftaten, insbesondere des Terrorismus. Doch das ist pure Illusion, denn ein Suchdurchlauf nach einem Verdächtigen würde mit der vorhandenen Technik derzeit etwa 50 bis 100 Jahre dauern. Selbst die USA verzichteten nach dem 11. September auf derartige Abenteuer. Das eigentliche Problem ist aber nicht mangelnde Effizienz. Vielmehr ist es der mit der Datenbevorratung verbundene eklatante Eingriff in die Grundrechte von Bürgerinnen und Bürgern. Diese totale Speicherung von Telefon- und Internetdaten läuft im Kern darauf hinaus, alle Menschen in der EU unter einen Generalverdacht zu stellen.
All dies waren wohl Gründe, weshalb es der britischen EU-Präsidentschaft nicht gelang, im Rat der Innen- und Justizminister die erforderliche Einstimmigkeit für einen Rahmenbeschluss herbeizuführen. Der Bundestag und das niederländische Parlament hielten ihre Innenminister davon ab, ihm zuzustimmen. Jetzt lehnte auch das Europäische Parlament den Vorstoß der vier EU-Staaten ab. Er sei nicht verhältnismäßig, greife tief in den Schutz der persönlichen Daten des einzelnen und in seine Privatsphäre ein. Verletzt werde Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, weil unter anderem nicht das legitime Ziel erkennbar sei, dem die Ratsinitiative dienen soll. Außerdem führe er nicht zum gewünschten Erfolg. Vehement eingefordert wurde das Mitentscheidungsrecht des Parlaments.
Aber die Kuh ist durch dieses Votum nicht vom Eis. Bereits am 21. September legte Innen- und Justizkommissar Frattini einen Vorschlag der EU-Kommission vor. Dieser sieht zwar eine Mitentscheidung des EU-Parlaments vor, knüpft inhaltlich jedoch nahtlos an das Vorhaben der vier EU-Staaten an, lediglich die Speicherdauer wurde nach unten korrigiert. Allerdings blieb auch die Kommission den Nachweis schuldig, durch Vorratsdatenspeicherung könne organisierte Kriminalität und Terrorismus wirksamer bekämpft werden. Beim EU-Datenschützer Hustinx stieß der Vorschlag deshalb auf massive Kritik. Bis Jahresende soll im Parlament erneut abgestimmt werden. Ausgang ungewiss.
veröffentlicht leicht gekürzt in Neues Deutschland am 30. September 2005