Es geht um existenzielle Fragen
André Brie über den UNO-Millenniumsgipfel und die Rolle der EU
ND: Auf dem dieser Tage zu Ende gegangenen UNO-Millenniumsgipfel sollten wichtige entwicklungspolitische Weichenstellungen vollzogen werden. Wie fällt Ihre Bilanz nach der Rückkehr aus New York aus?
Brie: Die entwicklungspolitischen Ergebnisse des Millenniumsgipfels sind absolut enttäuschend. In vielen wichtigen Fragen fallen sie zum Teil hinter die bereits vor fünf Jahren beschlossenen Millenniums- entwicklungsziele (MDG) zurück.
Warum wurde Entwicklungspolitik in den Hintergrund gedrängt?
Das ist eindeutig auf den Widerstand der USA zurückzuführen. Im Sommer hatte deren UNO-Botschafter John Bolton mit seinen zahllosen Änderungsanträgen das Dokument so verwässert, dass der erreichte Kompromiss auf diesen Gebieten einfach nicht den Erwartungen und schon gar nicht den Erfordernissen entspricht.
EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso hatte vor dem Millenniumsgipfel angemahnt, dem Thema Entwicklungshilfe besondere Priorität einzuräumen. War das ein bloßes Lippenbekenntnis?
EU-Mitgliedsländer, britische Ratspräsidentschaft und Kommission haben nicht ausreichend dazu beigetragen, dass die notwendigen Ergebnisse zustande kommen konnten. Die Erklärungen sowohl der Kommission als auch des Rates waren viel zu allgemein formuliert. Auf der anderen Seite muss ich anerkennen, dass die EU-Staaten maßgeblich dazu beigetragen haben, dass überhaupt etwas zu Stande gekommen ist.
Und das wäre?
Eine Bekräftigung aller Millenniumsentwicklungsziele, unter anderem bei der Forderung an die Industriestaaten, 0,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe auszugeben. Zudem wurde daran festgehalten, die extreme Armut in der Welt bis zum Jahr 2015 zu halbieren. Beides war angesichts der USA-Politik nicht selbstverständlich. Allerdings fehlen weiterhin die konkreten Verpflichtungen.
Sehen Sie die Chance, dass beim Treffen der Welthandelsorganisation in Hongkong im kommenden Dezember das Ruder noch herumgerissen werden kann?
Das ist nicht ausgeschlossen. Es gibt Anzeichen, dass die Industriestaaten einen Schritt in Richtung der Öffnung ihrer Märkte für Agrarprodukte aus den Entwicklungsländern vollziehen müssen. Allerdings wird man vom Grundprinzip einer weiteren Liberalisierung des Welthandels nicht abrücken. Das Kernproblem, das sich in New York wieder gezeigt hat, ist und bleibt, dass man dort mauert, wo politisch agiert werden muss und konkrete Verpflichtungen abgegeben werden sollen. Der freie Weltmarkt soll die Lösung sein, politische Probleme werden zu rein ökonomischen gemacht. So wäre selbst eine Öffnung der Märkte in den Industriestaaten Instrument für die weitere soziale und ökologische Zerstörung in den Ländern des Südens und für ihre wirtschaftliche Ausbeutung.
Die EU-Kommission hat im Mai einen Stufenplan zur Erreichung des 0,7-Prozent-Zieles bis 2015 verabschiedet.
Der Stufenplan geht in die richtige Richtung, war aber längst überfällig. Ob das Vorhaben letztlich durchsetzbar ist, lässt sich schwer abschätzen. Zwar stehen Staaten wie Deutschland nun unter Druck, dieser Verpflichtung nachzukommen. Rechtlich verbindlich ist sie aber nicht.
Sie haben in New York auch mit Kofi Annan gesprochen. Wie bewertet der UNO-Generalsekretär die EU-Entwicklungspolitik?
Bei den Vereinten Nationen werden die jüngsten Entwicklungen in Brüssel durchaus gewürdigt. Allerdings darf man offizielle Einschätzungen nicht zu ernst nehmen. UNO-Funktionäre – Kofi Annan eingeschlossen – hatten weitaus höhere Erwartungen an den Millenniumsgipfel, aber angesichts der Schwäche der Organisation und der Politik der USA halten sie sich zur Zeit mit kritischen Urteilen zurück. In Gesprächen habe ich jedoch bemerkt, wie groß die Ernüchterung bei der UNO ist.
Die Vertreter von Nichtregierungsorganisationen (NRO) waren sicherlich weniger zurückhaltend.
Das ist richtig. Die NRO waren tief enttäuscht und haben eine ausgesprochen kritische Bilanz gezogen. Sie gehen nun davon aus, dass die Millenniumsentwicklungsziele unter diesen Bedingungen nicht bis 2015 erreicht werden können.
Wie kann das Thema Entwicklungspolitik in Zukunft wieder stärker auf die politische Tagesordnung gesetzt werden?
Trotz der insgesamt deprimierenden Bilanz dieses Gipfels ist es den USA nicht gelungen, jede Chance auf die Umsetzung der MDG zunichte zu machen. Das ist für mich das einzig Positive. Nun kommt es darauf an, dass die Entwicklungsländer, NRO und die Öffentlichkeit ihren Druck auf die Regierungen erhöhen.
Welche Rolle kann dabei die Europäische Union spielen?
Das Europaparlament wird sich in der kommenden Woche mit den Ergebnissen des Millenniumsgipfels beschäftigen. Ich gehe schon davon aus, dass fast alle Fraktionen sich kritisch äußern werden und den Druck auf die EU-Kommission und auf den Europäischen Rat weiter verstärken. Ich glaube, dass das aber allein nicht ausreicht, dass wir in unserer Zivilgesellschaft ein Bewusstsein brauchen, dass es hier nicht einfach nur um Ziele für andere Staaten geht, sondern um gemeinsame, existenzielle Fragen.
André Brie sitzt seit 1999 für die Linkspartei.PDS im Europäischen Parlament. Er ist dort unter anderem im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten tätig. Als Mitglied einer Delegation des EU-Parlaments hat er am Millenniumsgipfel der Vereinten Nationen in New York teilgenommen, der vor wenigen Tagen zu Ende gegangen ist. Über seine Bilanz des Treffens sprach mit ihm Stefan Mentschel.
Quelle:
Neues Deutschland