Rede in der Aussprache über die Erklärungen des Rates und der Kommission zur Halbzeitüberprüfung der Lissabon-Strategie
Sehr geehrter Herr Präsident,
im März 2000 wollten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union sowie die Europäische Kommission uns den Beweis liefern, dass man Soziales über den neoliberalen Weg erreichen kann. Das endgültige Ziel, ‚Vollbeschäftigung‘ im Jahr 2010 wieder zu gewinnen, hatte hier und dort wirklich Hoffnungen ausgelöst. Fünf Jahre später ist das Ergebnis einfach grausam.
Die Arbeitslosigkeit liegt im EU-Durchschnitt bei 9% und prekäre Beschäftigung breitet sich galoppierend aus. In der bedeutendsten Volkswirtschaft der Europäischen Union, dem Exportweltmeister Deutschland, wurde der Spitzenwert von 5 Millionen Arbeitslosen überschritten. Um die Zielsetzungen von Lissabon zu erreichen – eine EU-Gesamtbeschäftigungsquote von 70% im Jahr 2010 – müssten in den nächsten 5 Jahren 22 Millionen Arbeitsplätze neu geschaffen werden. Dass dies klappen sollte, kann man sich nur schwer vorstellen, denn die EZB hat soeben die Wachstumsrate für die Eurozone auf 1,6% nach unten korrigiert und Länder wie Italien und die Niederlande stehen am Rand einer Rezession.
Allerdings, nicht allen geht es schlecht. Die Zeitschrift ‚The Economist‘ stellt eine ‚Explosion der Gewinne‘ der großen Unternehmen fest. Ihr ‚Anteil am Bruttoinlandsprodukt in Europa sowie in Asien‘, so unterstreicht das britische Magazin, ‚erreicht einen Rekordstand im Vergleich zu den letzten 25 Jahren (…) Die Lohnabhängigen‘, so präzisiert die Zeitschrift, ’sind hingegen die großen Verlierer‘. Wer spricht schon in diesem Hause über diese Fakten? Das Europäische Netzwerk ATD-Quart Monde (es befasst sich mit Armut und sozialer Ausgrenzung) bedauert, dass die Europäische Kommission an keiner Stelle ihrer Mitteilung vom 2. Februar, das Ziel der Überwindung der Armut erwähnt. Von Armut und sozialer Ausgrenzung sind aber heute 68 Millionen Menschen in der Europäischen Union betroffen.
Glauben Sie nicht, dass eine derart radikale Kluft zwischen den angestrebten Zielen von gestern und den Ergebnissen von heute es erfordert, dass man sich ernsthaft Fragen stellt, ob die der Lissabon-Strategie von Anfang an zu Grunde liegenden neoliberalen Dogmen angemessen waren? „Errare humanum, sed perseverare diabolicum“…
Welche Botschaften bekommen unsere Bürgerinnen und Bürger jedoch tagtäglich aus Brüssel?
Frau Danuta Hübner, Kommissarin für Regionalpolitik, will ‚Standortverlagerungen von Unternehmen in Europa einfacher machen‘! Für Herrn Spidla, Kommissar für Beschäftigungs- und Sozialpolitik, ‚ist unser Ziel vor allem die Flexibilität‘. Der Vizepräsident der Kommission und Kommissar für Industrie, Herr Verheugen, verdeutlicht in der französischen Presse: ‚Die Lissabon-Strategie setzte so viele Prioritäten, dass es eigentlich keine gab. Diesmal wollen wir einen konkreten Aktionsplan, der sich auf das Thema Wettbewerbsfähigkeit konzentriert.’ Frau Neelie Kroes, Kommissarin für Wettbewerb, erklärte ihrerseits, dass sie ‚die staatlichen Beihilfen zur Förderung von Regionen in den 15 alten Mitgliedstaaten der Union beenden will‘. Und Herr Mandelson, Kommissar für Außenhandel, hat die Mitgliedstaaten daran erinnert, dass es ihre Aufgabe sei, ‚die Reform ihres Arbeitsmarktes und des Wohlfahrtsstaates fortzuführen‘.
Herr Mc Creevy, Kommissar für Binnenmarkt, verdient hier eine besondere Erwähnung. Er hat den Spekulationen im Feuilleton ein Ende gesetzt, ob der Richtlinienentwurf zum Dienstleistungsbinnenmarkt zurückgezogen, korrigiert oder aufrechterhalten wird. Er erklärte, dass es überhaupt nicht in Frage kommt, diesen Entwurf zurückzuziehen, obwohl er überall abgelehnt wird. Im gleichen Aufwasch und im Einklang mit dem Rat hat er die Überprüfung der Richtlinie über Softwarepatente verweigert, obwohl diese Überprüfung einstimmig von allen Fraktionen des Parlamentes gefordert wurde. Schließlich hat er bei einer Veranstaltung des ‚European Policy Forum‘ in London mit angelsächsischer Offenherzigkeit bekundet : ‚We should remember that the internal market programme is by far the greatest deregulatory exercise in recent history‘. (Wir sollten beherzigen, dass das Binnenmarktprogramm die bei weitem größte Deregulierungsaktion der jüngsten Geschichte ist.)
Und all dies nennt Herr Barroso einen Neustart für Wachstum und Beschäftigung‘!
Merken Sie denn nicht, dass die Bevölkerung sich unaufhaltsam der Schwelle nähert, wo sie dies alles als eine Überdosis an Neoliberalismus empfindet? Und dass die Ablehnung dieses Modells früher oder später in der einen oder anderen Form als Bumerang auf die führenden Institutionen der Europäischen Union zurückschlagen wird? Meine Fraktion kämpft darum, gerade diese Strömung darin zu unterstützen, sich nicht gegen Europa zu stellen, sondern vielmehr Europa grundlegend umzugestalten. Daher können wir uns selbstverständlich nicht in der Kompromissentschließung wiederfinden, die uns heute vorgelegt wird, und darum haben wir einen alternativen Entschließungsantrag vorgelegt.
Vielen Dank.
Francis Wurtz ist Vorsitzender der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL)im Europäischen Parlament