Rede von Francis Wurtz, Fraktionsvorsitzender der Vereinten Europäischen Linken – Nordische Grüne Linke im Europäischen Parlament, zum Bericht über die Europäische Verfassung

Herr Präsident,

Der Corbett – Méndez de Vigo Bericht konzentriert sich fast ausschließlich auf die Formulierungen im Verfassungsvertrag, die Neuerungen gegenüber den gegenwärtig gültigen Verträgen darstellen, wie zum Beispiel die Ersetzung der halbjährlich wechselnden Präsidentschaft durch eine zweieinhalb Jahre währende Präsidentschaft; die Schaffung des Postens eines Außenministers, ohne jedoch damit die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu vergemeinschaften; die Stärkung der Zuständigkeiten des Europäischen Parlaments; das Recht der nationalen Parlamente, die Kommission anzurufen wenn sie der Ansicht sind, dass diese ihre Rechte überschritten hat; oder aber die Möglichkeit für eine Million Bürger/innen, die Kommission zur Vorlage eines Gesetzesentwurfes zu diesem oder jenem Thema aufzufordern.

Wenn der Text, der den Bürger/innen und den Parlamenten nun zur Ratifikation vorgelegt wird, sich tatsächlich auf diese Art von Artikeln beschränken würde, würde sich ein großer Teil der Mitglieder meiner Fraktion – nicht alle, aber ein großer Teil von ihnen, zu denen auch ich gehören würde – nicht gegen den Verfassungsentwurf positionieren. Denn wir sind für Europa, und alles, was zu einer Demokratisierung Europas und zu einem guten Funktionieren der EU beiträgt, verdient eine positive Beurteilung. Wir sind nicht die Unabhängigkeitspartei Großbritanniens! Wir denken, dass Europa in dieser globalisierten Welt dringend gebraucht wird. Aber: Welche politische Orientierung und welche Art von europäischen Strukturen gebraucht werden, das ist für uns die Kernfrage.

Wir brauchen eine politische Orientierung und Strukturen, die es uns ermöglichen, die Finanzmärkte zu beherrschen, statt ihnen wie gegenwärtig ausgeliefert zu sein. Das ist möglich, wenn man wichtige politische Hebel wie die Europäische Zentralbank, das Instrument der Kapitalbesteuerung oder Institutionen der öffentlichen Hand in diesem Sinne nutzt; wenn man sich entschließt, Regeln aufzustellen, die Unternehmen in die soziale, ökologische, demokratische und ethische Verantwortung nehmen; und wenn man sich dazu entschließt, die damit frei werdenden Mittel im Sinne politischer Prioritäten zu verwenden, die im Ergebnis von öffentlicher Debatte und demokratischer Abstimmung festgelegt und regelmäßig evaluiert werden. In dieser Hinsicht ist Europa der geeignete politische Raum, um Herausforderungen zu begegnen, die ein einzelnes Land angesichts der Globalisierung vor große Schwierigkeiten stellen.

Daher brauchen wir Orientierungen und Strukturen, die die Tendenz der zunehmenden Entfernung von den Zentren der Entscheidungsfindung umkehrt, die die Souveränität der Bevölkerung und die Möglichkeiten, zwischen mehreren politischen Optionen zu wählen, zurückerobert, anstatt vor dem „Gesetz des Marktes“ einzuknicken und dem Fatalismus, dem Todfeind der Demokratie, immer weiter Nahrung zu geben. Auch um diese Ziele zu erreichen, könnte Europa der geeignete Schauplatz sein. Und daher muss es auch die europäische Ebene sein, auf der die Informations-, Beteiligungs- und Aktionsrechte von Arbeitnehmer/innen, von Bürger/innen, Abgeordneten und öffentlichen Institutionen gestärkt werden müssen, um die arrogante Macht jener, die sich für die Feudalherren der Neuzeit halten zurückzudrängen.

Wenn wir das Recht haben, an Europa eine Erwartungshaltung zu knüpfen, dann ist es wohl jene Erwartung, dass Europa voll und ganz sein Gewicht dafür einsetzt, als verantwortungsvoller globaler Akteur zu agieren und dafür zu sorgen, dass in den internationalen Beziehungen andere Regeln aufgestellt werden. Man stelle sich vor, welchen Einfluss eine europäische Position haben könnte, die Krieg als Mittel zur Konfliktlösung ausdrücklich verurteilt und vom Nahen Osten bis zum Kaukasus die Stärke der Politik statt die Politik der Stärke spielen ließe. Oder aber eine Politik, die eine Allianz zwischen Europa und den Entwicklungsländern bis hinein in die internationalen Handels- und Finanzinstitutionen schafft, um die tödliche Logik eines Wirtschaftskrieges zwischen Nord und Süd zu verdrängen. Oder aber eine Haltung gegenüber den USA, die zwar auf eine ehrgeizige Partnerschaft mit dieser großen Nation, so wie auch mit anderen Nationen zielt, dies aber auf eine Basis von gegenseitiger politischer und strategischer Unabhängigkeit stellt.

Wenn Sie ehrgeizige Ziele mit Europa verbinden – werden einige von Ihnen fragen – warum sind Sie dann gegen diesen Verfassungsentwurf? Aus eben dem Grund, weil der Verfassungstext politische Weichenstellungen feierlich und dauerhaft verankert, die seit dem Vertrag von Maastricht sukzessive angehäuft wurden und genau das Haupthindernis für die Umsetzung der von mir beschriebenen Ziele darstellen. Ich denke insbesondere an das Schlüsselprinzip der „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“; an das Statut und die Aufgaben der Europäischen Zentralbank, die liberaler nicht sein könnten; an die Machtbefugnisse der Kommission im Wettbewerbsbereich oder an die ausdrückliche Unterordnung jeder europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik unter die NATO-Politik.

Zu diesen alten Bestimmungen sind neue hinzugekommen, die den Graben zwischen dem heutigen Europa und dem Europa, das ich beschrieben habe, noch vertiefen. So enthält der Verfassungsentwurf einen Artikel, der ganz im Sinne des „Multilateralen Investitionsabkommen“ auf die „Beseitigung aller Restriktionen für ausländische Direktinvestitionen“ abzielt, aber auch andere, gefährlich zweideutig formulierte Artikel zur Patentierung von Leben oder zur kulturellen Vielfalt.

Auf all diesen Gebieten brauchen wir keine propagandistische Kampagne, die allen Widersprüchen aus dem Wege geht, sondern eine freie, öffentliche und pluralistische Aufarbeitung der Erfahrungen, die wir im den vergangenen Jahren gemacht haben und die uns in eine Vertrauenskrise im Verhältnis zwischen den Bürger/innen und den europäischen Institutionen geführt haben. Der Bericht unserer Kollegen Corbett und Mendez de Vigo macht zu diesem Teil des Verfassungsentwurfs, der Politik und der Funktionsweise der Union beschreibt – und immerhin mehr als zwei Drittel des gesamten Textes ausmacht – keinerlei Aussagen.

Aus diesen Gründen lehnen wir den Bericht ebenso wie den Verfassungsentwurf selbst ab. Aber, das möchte ich unterstreichen, unser Nein ist für viele von uns offen für Alternativen. Es ist ein proeuropäisches Nein! Ich danke Ihnen.