Was heißt „soziale Marktwirtschaft?“ ND-Serie zur Verfassung

Andreas Wehr

Als „Tragödie“ und „sozialpolitisches Trauerspiel“ hat der Mitautor des Wirtschaftsmemorandums, Jörg Huffschmid, die Bestimmungen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik im Verfassungsvertrag bezeichnet. Auf den ersten Blick mag dieses harte Urteil überraschen, findet man doch gleich am Beginn des Textes in Artikel I-3 einen Verweis auf eine „soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt“, versehen allerdings auch mit der Verpflichtung auf eine „in hohem Maße wettbewerbsfähige“ Wirtschaft. Aber immerhin: Den Begriff „soziale Marktwirtschaft“ sucht man vergeblich in den noch geltenden Verträgen. Und ohne das hartnäckige Bohren einiger weniger linker Sozialdemokraten, vor allem aus Belgien, Frankreich und Österreich, sowie des einzigen Mitglieds der linken Fraktion im Europäischen Konvent, Sylvia-Yvonne Kaufmann, wäre diese Formulierung, die für manchen britischen Konservativen schon wie eine Verpflichtung auf den Sozialismus klingt, erst gar nicht in den Entwurf aufgenommen worden.

Soweit so gut. Liest man allerdings weiter, so findet man im hinteren, konkreten Teil ganz andere Aussagen. Etwa in den Artikeln III-177 ff. zur Wirtschafts- und Währungspolitik. Hier wird nur noch von einer „allgemeinen Wirtschaftspolitik in der Union unter Beachtung des Grundsatzes einer offenen Markwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ gesprochen. Auch die in den Artikeln III-206 ff. geregelte Beschäftigungspolitik wird in das Prokrustesbett der „offenen Markwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ mit Hilfe juristischer Querverweise“ gezwängt. Und die einheitliche Geld – und Wechselkurspolitik soll nach Artikel III-177 „vorrangig das Ziel der Preisstabilität verfolgen“. In Artikel I-3 ist hingegen noch von einer „nachhaltigen Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität“ die Rede. Und natürlich sind diese konkreten Bestimmungen als Spezialgesetze vorrangig gegenüber den Artikeln im allgemeinen Teil.

Die offenkundigen Unterschiede und Widersprüche zwischen dem ersten, allgemeinen und dem konkreten, dritten Teil sind demnach offenkundig. Sie sind auch nicht etwa zufällig, denn im Verfassungskonvent wurde bewusst auf eine Harmonisierung dieser Abschnitte verzichtet. Der konkrete, dritte Teil ist die nahezu unveränderte Widergabe des gegenwärtigen EG-Vertrages. Genauer: Es sind hier die neoliberalen Aussagen des Vertrags von Maastricht, die nun im Verfassungsvertrag wieder auftauchen. Über den Grund für dieses Vorgehen gibt die Bundesregierung in ihrem Einbringungsgesetz zum Verfassungsvertrag offen Auskunft: Es wurde „Wert darauf gelegt, die bisherigen Bestimmungen zu den Sachpolitiken soweit wie möglich zu übernehmen, insbesondere damit die zu diesen Bestimmungen entwickelte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes auch weiterhin zur Auslegung herangezogen werden kann“. Weiter gelten soll danach auch die umstrittene Rechtsprechung, auf die sich die Kommission etwa bei der Dienstleistungsrichtlinie stützt. Mit den Vertragsbestimmungen alleine wäre nämlich ein solch tiefer Einschnitt in das soziale Gefüge der europäischen Gesellschaften nicht zu begründen.

Die neoliberalen Bestimmungen des Verfassungsvertrages zur Wirtschafts- und Sozialpolitik bieten inhaltlich nicht viel Neues. Sie werden aber jetzt in den Verfassungsrang erhoben. Sie werden Teil eines Vertrages, der bei einer EU von 25 und bald mehr Staaten nur noch sehr schwer zu ändern sein. Eines Vertrages, der deshalb wahrscheinlich viele Jahre in Kraft bleiben wird. Angesichts stagnierenden Wachstums, steigender Arbeitslosigkeit und vermehrter Armut in der EU ist das Scheitern der Maastricht-Strategie aber heute offensichtlich. Die Proteste gegen diese Politik werden häufiger und stärker, wie sich etwa beim Europäischen Aktionstag am 19. März in Brüssel erneut zeigen wird. In einer solchen Situation diese verfehlte Politik nun auch noch in einen Verfassungstext gießen zu wollen, grenzt schon an eine Provokation.
Quelle: Neues Deutschland vom 04.März 2005