Situation im Irak spitzt sich zu: 365 Tage im Jahr wie in London am 7. Juli
Nach seinem viertägigen Besuch in Bagdad und in der irakischen Provinz Diyala erklärt der Europaabgeordnete André Brie:
Nach meiner Teilnahme an einer Konferenz mit über 100 Politikern, darunter mehrere Generalsekretäre von Parteien, Stammesführern, Vertreterinnen und Vertretern zahlreicher zivilgesellschaftlicher Organisationen sowie nach verschiedenen Treffen mit irakischen Politikerinnen und Politikern hauptsächlich aus der sunnitischen Gemeinschaft bin ich bestürzt und entsetzt über die gegenwärtige Situation im Irak. Noch am Dienstag habe ich gemeinsam mit einem sozialdemokratischen Kollegen aus Portugal, Paulo Casaca, auf dem Gasali-Friedhof im Zentrum Bagdads Blumen am Grab eines Kindes niedergelegt, das bei dem brutalen Anschlag am vergangenen Sonnabend getötet worden war.
Die Sicherheit im Irak hat sich nochmals dramatisch verschlechtert. Vor einer Woche erklärten die US-Truppen die Reduzierung der Anschläge und Angriffe auf die Besatzungskräfte von aktuell 80 auf 45 pro Tag zu ihrem Ziel. Das würde der Zahl vor den Wahlen entsprechen. Aber für die Verringerung des täglichen Terrors, dem die Irakerinnen und Iraker aus unterschiedlichsten Richtungen ausgesetzt sind, gibt es keine Vorgaben. Der Irak erlebt Terrorismus an jedem Tag und an vielen Orten zugleich. Die endgültige und blutige Desintegration des Landes kann nicht mehr ausgeschlossen werden.
Auch die wirtschaftliche und soziale Situation gibt kaum Anlass zu Hoffnung. Die Lage von Frauen und Kindern hat sich eher verschlechtert; im Süden des Landes haben fundamentalistische, teilweise offen von Iran unterstützte Milizen die Kontrolle weiter Teile der Großstädte übernommen. In Basra beherrschen sie nach Angaben des Polizeichefs drei Viertel der Stadt. Ihre reaktionäre Frauenpolitik wurde weitgehend durchgesetzt. So berichtete Dr. Suha al-Azaye, dass sie nach ihren Forderungen als Mitglied der Verfassungskommission, Frauenrechte in der Konstitution zu verankern, bedroht wurde. Die Rolle der Frau sei im islamischen Recht bereits vollständig geregelt, wurde ihr beschieden.
Mehrfach forderten repräsentative sunnitische Gesprächspartner, dass die doppelte Okkupation des Irak – die offene durch die Besatzungstruppen sowie die latente durch fundamentalistische Gruppen und Milizen – sofort beendet werden müsse. Wie mir der damalige Gouverneur der Provinz Diyala, Dr. Abdullah al-Jabouri, berichtete, seien auch die Wahlen am 30. Januar im sunnitischen Teil Iraks sowohl von Gewalt und Drohungen als auch von Aufrufen sunnitischer Führer zum Wahlboykott und von Manipulationen begleitet gewesen.
Es ist dringend erforderlich, dass die geplanten Neuwahlen unter internationaler Beobachtung stattfinden, damit der weitgehende und gefährliche Ausschluss der sunnitischen Bevölkerung aus der Nationalversammlung überwunden werden kann. Die weitere Abstinenz von Vertretern des Europäischen Parlaments und der nationalen europäischen Parlamente ist auch aus meiner Sicht nicht akzeptabel.