Barroso pfeift auf soziale Gerechtigkeit in Europa
Zu den jüngsten Äußerungen des EU-Kommissionspräsidenten über vordringliche Aufgaben der EU erklärt die Europaabgeordnete der Linkspartei.PDS Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments:
Fast überfallartig stellte die EU-Kommission im Ergebnis eines „Seminars über die Zukunft Europas“ die Weichen, um ganz im Sinne des britischen Premiers Tony Blair die marktradikale Ausrichtung der EU zu stärken, ihren politischen Rückbau einzuleiten und das europäische Sozialmodell endgültig zu entsorgen.
Europas Wirtschaft müsse an die Herausforderungen der Globalisierung angepasst werden, ohne „Hindernisse“ für die Wirtschaft aufzubauen, bekräftigte EU-Kommissionspräsident Barroso. Während er nur allgemein von der Wahrung des „Gleichgewichts zwischen Wettbewerb und sozialer Gerechtigkeit“ sprach, stellte der Kommissionspräsident klar, dass die EU für soziale Gerechtigkeit nicht zuständig sei, wohl aber für Initiativen zur „grundlegenden Revision der staatlichen Sozialsysteme“. Nebulös verwies er auf „Methoden“, mit denen die EU-Mitgliedstaaten für sozialen Ausgleich sorgten. Wirtschaftswachstum könne nur durch bessere Wettbewerbsfähigkeit erzielt werden. Zu diesem Zweck würden der gesamte EU-Gesetzesbestand „entschlackt“ und Vorschläge der Kommission künftig einem „Wettbewerbsfähigkeitstest“ unterworfen. Trotz heftiger Kritik an der Dienstsleistungsrichtlinie soll dieses neoliberale Vorhaben umgehend durchgezogen werden.
Ausdrücklich betonte Barroso, dass die EU-Verfassung vorerst vom Tisch sei. Weder verteidigte er die von Kapital und Multis eh nicht favorisierte Verfassung, noch plädierte er für eine aktive Weiterführung des Verfassungsprozesses. An die Stelle der „Reflexionsphase“, die im Juni von den EU-Staats- und Regierungschefs nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden beschlossen worden war, müsse ein wirtschaftsliberaler Reformprozess treten. „Konzentrieren wir nicht all unsere Energie auf institutionelle Szenarien“, so der Kommissionspräsident.
Barroso hatte wie der britische Premier offenbar fest mit einem deutlichen Wahlsieg von CDU/CSU und einer konservativ-liberalen Regierung in Deutschland gerechnet. Daraus erklärt sich wohl auch der Zeitplan für die Bekanntgabe der Positionen der EU-Kommission unmittelbar nach der Bundestagswahl. Doch eine Mehrzahl der Wählerinnen und Wähler machte einen Strich durch diese Rechnung. Dem neoliberalen Zeitgeist wurde eine Niederlage bereitet. Nun gilt es zu verhindern, dass auf dem EU-Sondergipfel auch für das europäische Sozialmodell die Sterbeurkunde ausgestellt wird. Parlamentarisch wie außerparlamentarisch ist energischer Widerstand erforderlich.