NEIN zum Nein

Europa, die europäische Integration und die Europäische Union – seit 14 Jahren ist mein politisches Leben mit Europa verbunden. Als ich 1991 meine Tätigkeit als Beobachterin im Europäischen Parlament begann, gab es die aus 12 Staaten bestehenden Europäischen Gemeinschaften. Inzwischen bilden 25 Staaten die Europäische Union, weitere kommen hinzu. In der EU leben heute mehr als 450 Millionen Menschen friedlich miteinander. Es ist noch nicht lange her, dass die Ost-West-Blockkonfrontation und als deren Symbol die Mauer mitten in Berlin Europa spalteten. Auf dem Kontinent, der über Jahrhunderte hinweg durch imperiale Kriege und Feindschaft geprägt war, von dem aus der Kalte Krieg und das Wettrüsten der Supermächte USA und Sowjetunion bis 1990 die internationalen Beziehungen dominierten, wird mit der Europäischen Verfassung ein neues Kapitel in der Integrationsgeschichte aufgeschlagen. Vor diesem Hintergrund ist das Nein der PDS zur Europäischen Verfassung eine strategisch falsche Entscheidung.

Die Haltung zur Verfassung ist zugleich die Frage nach der Haltung zur EU – und die Ablehnung der Verfassung führt letztendlich auch zu einem Nein zur Europäischen Union. Das ist ein Irrweg. Die EU ist ein neuartiger Verbund kapitalistischer Staaten, der ökonomisch Neoliberalismus und politisch ein Streben nach Machtentfaltung verkörpert, aber ebenso zivilisatorischen und sozialen Fortschritt beinhaltet – und genau in diesem Spannungsbogen bewegt sich die Europäische Verfassung. In ihr sind die „Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtstaatlichkeit, und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören“ verankert. „Diese Werte“, so heißt es in der Verfassung, „sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Männern und Frauen auszeichnet.“ Programmatisch teilen die PDS und die Europäische Linke diesen Wertekanon, denn sie streben eine Gesellschaft an, in der diese Werte in ihrer Gesamtheit Realität werden.

Nie wieder Nationalismus, Faschismus und Krieg! Die bitteren Erfahrungen aus dem vergangenen Jahrhundert waren es, die nach dem von Hitler-Deutschland vom Zaun gebrochenen Zweiten Weltkrieg auch für viele linke Antifaschisten, für Kommunisten und Sozialdemokraten die Vision vom geeinten Europa als Teil ihrer Zukunftsvorstellungen bestimmten. Menschen wie Altiero Spinelli, italienischer Antifaschist und demokratischer Kommunist, Mitbegründer der Europäischen Bewegung und Initiator des ersten Verfassungsentwurfs zur Gründung der Europäischen Union vom 14. Februar 1984, gehören zu dieser proeuropäischen Traditionslinie. Hier liegt auch mein europapolitisches Selbstverständnis. Die Europäische Union ist Garant für Frieden und Stabilität in Europa. Als Sozialistin und überzeugte Europäerin kann ich es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, die erste Europäische Verfassung abzulehnen.

Gewiss enthält die Verfassung Mängel und Widersprüche, die auch mir meine Entscheidung nicht leicht gemacht haben. Aber: ein „sozialistisches Europa“ ist nicht in Sicht. Es ist realitätsfern, die derzeitige EU durch eine „konstruktive politische Krise“ überwinden zu wollen, wie manche Linke meinen. Vielmehr geht es darum, sie zu verändern. Ich will, dass diese real existierende Europäische Union fortentwickelt und jede Chance genutzt wird, sie friedlich, sozial und demokratisch zu gestalten. Die Verfassung ist wesentlich besser als das, was die Union derzeit rechtlich zusammenhält. Durch sie wird die Europäische Union demokratischer. Sie stärkt die Rechte der Bürgerinnen und Bürger. Sozial verschafft sie linker Politik größere Spielräume, Kräfteverhältnisse hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit zu verändern – vorausgesetzt, sie werden auch genutzt.

Wenn die Verfassung scheitert, bliebe der gegenwärtig gültige Vertrag von Nizza in Kraft. Sich gegen die Verfassung auszusprechen, bedeutet in der Konsequenz also zweierlei: Man tritt zum einen dafür ein, dass keine einzige Verbesserung gegenüber den gegenwärtigen Verträgen in Kraft treten soll. Das widerspricht meinem Grundverständnis von linker Politik. Ich bin der Auffassung, dass sich die PDS auf allen Ebenen – sei es nun vor Ort in der Kommune, im eigenen Land oder in Europa – für Fortschritte und konkrete Verbesserungen der Lebensbedingungen der Menschen engagieren muss. Zum anderen würde mit dem Nizza-Vertrag jener Vertrag gültig bleiben, den die PDS zuvor mit Recht abgelehnt hat. Überdies fiele die Europäische Union in eine Krise. EU-Gegner, Nationalisten und Rechtsextremisten wollen genau das. Die Linke darf diesen Kräften, die europaweit an Einfluss gewinnen, nicht in die Hände spielen. Eine Krise der EU würde letztendlich auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger gehen. Eine politisch geschwächte und handlungsunfähige EU würde ferner das weltweite Hegemoniestreben der Bush-Administration stärken, das durch Präventivkriege und Unilateralismus den Frieden in der Welt und die internationale Sicherheit dramatisch bedroht. Das kann nicht unser Interesse sein.

Die PDS und andere Linksparteien haben den Vertrag von Maastricht zur Schaffung der Währungs- und Wirtschaftsunion sowie die Nachfolgeverträge abgelehnt, weil damit der Neoliberalismus in Beton gegossen wurde. Jetzt schafft die Verfassung Voraussetzungen, diesen Beton wieder aufzubrechen. Mit ihr ist es möglich, die Globalisierung in Europa humaner zu gestalten und eine sozial-ökologische Marktwirtschaft mit geordnetem Wettbewerb als Alternative zur Shareholder-Value-Ökonomie zu entwickeln. So wird in Europa ein „neuer Sozialvertrag“ begründet, wie das Ständige Forum der europäischen Zivilgesellschaft in seinem Aufruf Ende 2004 zutreffend betont. Europäischer Gewerkschaftsbund und DGB sehen in der Verfassung im Vergleich zur bestehenden Vertragslage eine „klare Verbesserung“ für die arbeitenden Menschen. Linke Politik in Europa kann sich auf die Verfassung stützen – im Kampf gegen Massenarbeitslosigkeit, Sozialabbau und Lohndumping.

Ich bin davon überzeugt, dass ein geeintes Europa nie zustande kommt, wenn jede politische Richtung ihre eigenen Vorstellungen zum alleinigen Maß aller Dinge erhebt. Das geeinte Europa kann nur mit dem Willen aller aufgebaut werden, und das muss von der Bereitschaft getragen sein, Vorstellungen anderer nicht einfach kompromisslos abzulehnen. Ich denke, wir sollten uns nicht anmaßen, der Aufbau eines geeinten Europas richte sich allein nach unseren Maßstäben. Auch deshalb stimme ich der Verfassung zu.

Selbstverständlich bedeutet mein Ja nicht, die notwendige Kritik am Vertragswerk unter den Teppich zu kehren. Ich werde auch weiterhin alles bekämpfen, was den Ausbau der EU zur Militärmacht befördert. Aus meiner Sicht muss die Europäische Linke ihre Anstrengungen verstärken, um mit überzeugenden friedenspolitischen Alternativen eine größere Öffentlichkeit gegen die Militarisierungsprozesse in der EU zu mobilisieren. Jetzt kommt es darauf an zu verhindern, dass die Union zu einem Abziehbild US-amerikanischer Militärmachtprojektion verkommt, dass sie sich selbst durch Aufrüstung ökonomisch und sozial schwächt und unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung in ein Kotau-Verhältnis zu den USA gedrängt wird. Da zudem alle militärischen Belange gemäß Verfassung die Zustimmung jedes beteiligten Mitgliedstaats erfordern und damit letztendlich in nationalstaatlicher Verantwortung bleiben, müssen militärinterventionistische Bestrebungen auch künftig vor allem auf nationaler Ebene bekämpft werden.

Mein NEIN zum Nein fußt zugleich auf meinem Verständnis von Demokratie. Das Entstehen der Verfassung ist mit einem Novum verbunden. Sie kam nicht durch einen hinter verschlossenen Türen vollzogenen „Überraschungscoup“ der Herrschenden zustande. Sie entstand vielmehr in einem Prozess, der sich im engeren Sinne über mehrere Jahre erstreckte. Sowohl dem Grundrechte-Konvent im Jahr 2000 als auch dem späteren Verfassungskonvent gehörten mehrheitlich Abgeordnete aus allen nationalen Parlamenten und aus dem Europäischen Parlament an. Der Verfassungsprozess verlief öffentlich und war für politisch interessierte Menschen mitverfolgbar. Artikel für Artikel des „Vertrags über eine Verfassung für Europa“ wurde öffentlich erstritten. Fast alle relevanten politischen Kräfte, die Wirtschaft oder die Europäische Zentralbank versuchten, ihre Positionen durchzusetzen. Nichtregierungsorganisationen aller Couleur, vor allem die Gewerkschaften, beteiligten sich mit konkreten Vorschlägen. Durch diese Konventsmethode gelang es trotz unterschiedlichster Vorstellungen über die Zukunft der EU, einen breiten staaten- und parteienübergreifenden Konsens zu erreichen und die bislang umfassendste Reform der Europäischen Union auf den Weg zu bringen. Die Föderalismus-Reform in Deutschland scheiterte kläglich daran, nur die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern neu zu definieren. Der europäische Verfassungskonvent hingegen konnte für ein ganzes Bündel jahrelang ungelöster Probleme Lösungen finden. Es wurde der gegenwärtig erreichbare Maximalkompromiss erzielt, und zwar nicht nur zwischen 25 europäischen Staaten, sondern vor allem zwischen jenen politischen Kräften, die mehr Europa wollen und denen, die auf die Nationalstaaten setzen oder nach Renationalisierung streben. Dies war nur möglich, weil es den gemeinsamen Reformwillen und Kompromissbereitschaft aller Beteiligten gab.

Mein NEIN zum Nein hat auch mit dem Versagen der Linken zu tun. Während der Verfassungskonvent über die Zukunft der EU stritt und europäische Geschichte schrieb, betrachtete die Europäische Linke das Geschehen im Grunde unbeteiligt aus der Ferne. Die Chance, zielgerichtet in einen ablaufenden politischen Prozess zu intervenieren, wurde vertan. Von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen gab es zu keinem Thema konkrete Vorschläge, sei es nun zur Kompetenzabgrenzung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten, zur Demokratisierung der EU, zur Ausgestaltung des Subsidiaritätsprinzips, zur Außen- und Sicherheitspolitik oder gar zur Frage eines sozialen Europas. Dies trifft leider im Kern auch auf die PDS zu, die im Unterschied zu anderen linken Parteien nicht auf eine Renationalisierung der europäischen Politik, sondern bislang auf eine progressive Weiterentwicklung der Europäischen Union orientierte. Gerade auch die Tatsache, dass zahlreiche, von uns in den 90er Jahren formulierte europapolitische Forderungen in der einen oder anderen Weise Eingang in die Verfassung fanden, macht für mich das Nein meiner Partei umso unverständlicher.

Die PDS hat sich per Parteitagsbeschluss mehrheitlich entschieden, die Europäische Verfassung abzulehnen – ohne ihre Mitglieder ausreichend über den Verfassungstext zu informieren und ohne sie mit Sachkenntnis Für und Wider gegeneinander abwägen zu lassen. Ich habe zur Kenntnis nehmen müssen, dass mein Versuch scheiterte, in der PDS gerade nach der erfolgreichen Europawahl doch noch eine gründliche Befassung mit der Verfassung und der Gesamtheit ihrer gesellschaftlichen sowie internationalen Bezüge auf den Weg zu bringen. Statt darüber nachzudenken, wie neu entstehende politische Spielräume genutzt werden können, um die Ziele linker Politik besser durchsetzen zu können, fiel man in althergebrachte Erklärungsmuster zurück. Auf der Grundlage einer die Inhalte der Verfassung verfälschenden Darstellung wurde ein Beschluss herbeigeführt, der darin gipfelt, eine Kampagne gegen die Europäische Verfassung zu führen. Darüber hinaus wird eine „andere Verfassung“ gefordert, ohne überzeugende Alternativvorschläge auf den Tisch legen zu können. Für mich ist jedoch inakzeptabel, wenn die Linke, die den Verfassungsprozess ignorierte und unfähig war, eigene substantielle Vorschläge zu präsentieren, sich heute geradezu mit Aufrufen überschlägt, um gegen die so genannte „Giscard-Verfassung“ mobil zu machen.

Als Mitglied des Grundrechte- und des Verfassungskonvents habe ich meine Arbeit in beiden Gremien als Verpflichtung angesehen, mich dafür einzusetzen, die europäische Integration zu vertiefen, sie auf eine solide demokratische Grundlage zu stellen und möglichst viele fortschrittliche Bestimmungen im Verfassungstext zu verankern. Ich bin durchaus stolz darauf, dass mehrere Dutzend Artikel der Grundrechtecharta und der Verfassung auch meine Handschrift tragen. So ist es auch Ergebnis meiner Arbeit, dass die EU künftig auf die Ziele Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt verpflichtet wird, dass für den Kampf um die Gleichstellung der Geschlechter bessere Rechtsgrundlagen geschaffen wurden, dass die Verfassung weitreichende Nichtdiskriminierungsbestimmungen enthält oder dass die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU erstmals ausdrücklich der Einhaltung der Grundsätze der UN-Charta und der Wahrung des Völkerrechts unterworfen wird – wie durch Artikel 26 Grundgesetz sind auch der EU damit Angriffskriege verboten. Letztendlich war dies nur möglich, weil das große Engagement der zahlreichen NGO den ohnehin bestehenden Reformdruck in der EU enorm erhöhte.

Straßburg, 11. Januar 2005

Europa, die europäische Integration und die Europäische Union – seit 14 Jahren ist mein politisches Leben mit Europa verbunden. Als ich 1991 meine Tätigkeit als Beobachterin im Europäischen Parlament begann, gab es die aus 12 Staaten bestehenden Europäischen Gemeinschaften. Inzwischen bilden 25 Staaten die Europäische Union, weitere kommen hinzu. In der EU leben heute mehr als 450 Millionen Menschen friedlich miteinander. Es ist noch nicht lange her, dass die Ost-West-Blockkonfrontation und als deren Symbol die Mauer mitten in Berlin Europa spalteten. Auf dem Kontinent, der über Jahrhunderte hinweg durch imperiale Kriege und Feindschaft geprägt war, von dem aus der Kalte Krieg und das Wettrüsten der Supermächte USA und Sowjetunion bis 1990 die internationalen Beziehungen dominierten, wird mit der Europäischen Verfassung ein neues Kapitel in der Integrationsgeschichte aufgeschlagen. Vor diesem Hintergrund ist das Nein der PDS zur Europäischen Verfassung eine strategisch falsche Entscheidung.

Die Haltung zur Verfassung ist zugleich die Frage nach der Haltung zur EU – und die Ablehnung der Verfassung führt letztendlich auch zu einem Nein zur Europäischen Union. Das ist ein Irrweg. Die EU ist ein neuartiger Verbund kapitalistischer Staaten, der ökonomisch Neoliberalismus und politisch ein Streben nach Machtentfaltung verkörpert, aber ebenso zivilisatorischen und sozialen Fortschritt beinhaltet – und genau in diesem Spannungsbogen bewegt sich die Europäische Verfassung. In ihr sind die „Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtstaatlichkeit, und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören“ verankert. „Diese Werte“, so heißt es in der Verfassung, „sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Männern und Frauen auszeichnet.“ Programmatisch teilen die PDS und die Europäische Linke diesen Wertekanon, denn sie streben eine Gesellschaft an, in der diese Werte in ihrer Gesamtheit Realität werden.

Nie wieder Nationalismus, Faschismus und Krieg! Die bitteren Erfahrungen aus dem vergangenen Jahrhundert waren es, die nach dem von Hitler-Deutschland vom Zaun gebrochenen Zweiten Weltkrieg auch für viele linke Antifaschisten, für Kommunisten und Sozialdemokraten die Vision vom geeinten Europa als Teil ihrer Zukunftsvorstellungen bestimmten. Menschen wie Altiero Spinelli, italienischer Antifaschist und demokratischer Kommunist, Mitbegründer der Europäischen Bewegung und Initiator des ersten Verfassungsentwurfs zur Gründung der Europäischen Union vom 14. Februar 1984, gehören zu dieser proeuropäischen Traditionslinie. Hier liegt auch mein europapolitisches Selbstverständnis. Die Europäische Union ist Garant für Frieden und Stabilität in Europa. Als Sozialistin und überzeugte Europäerin kann ich es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, die erste Europäische Verfassung abzulehnen.

Gewiss enthält die Verfassung Mängel und Widersprüche, die auch mir meine Entscheidung nicht leicht gemacht haben. Aber: ein „sozialistisches Europa“ ist nicht in Sicht. Es ist realitätsfern, die derzeitige EU durch eine „konstruktive politische Krise“ überwinden zu wollen, wie manche Linke meinen. Vielmehr geht es darum, sie zu verändern. Ich will, dass diese real existierende Europäische Union fortentwickelt und jede Chance genutzt wird, sie friedlich, sozial und demokratisch zu gestalten. Die Verfassung ist wesentlich besser als das, was die Union derzeit rechtlich zusammenhält. Durch sie wird die Europäische Union demokratischer. Sie stärkt die Rechte der Bürgerinnen und Bürger. Sozial verschafft sie linker Politik größere Spielräume, Kräfteverhältnisse hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit zu verändern – vorausgesetzt, sie werden auch genutzt.

Wenn die Verfassung scheitert, bliebe der gegenwärtig gültige Vertrag von Nizza in Kraft. Sich gegen die Verfassung auszusprechen, bedeutet in der Konsequenz also zweierlei: Man tritt zum einen dafür ein, dass keine einzige Verbesserung gegenüber den gegenwärtigen Verträgen in Kraft treten soll. Das widerspricht meinem Grundverständnis von linker Politik. Ich bin der Auffassung, dass sich die PDS auf allen Ebenen – sei es nun vor Ort in der Kommune, im eigenen Land oder in Europa – für Fortschritte und konkrete Verbesserungen der Lebensbedingungen der Menschen engagieren muss. Zum anderen würde mit dem Nizza-Vertrag jener Vertrag gültig bleiben, den die PDS zuvor mit Recht abgelehnt hat. Überdies fiele die Europäische Union in eine Krise. EU-Gegner, Nationalisten und Rechtsextremisten wollen genau das. Die Linke darf diesen Kräften, die europaweit an Einfluss gewinnen, nicht in die Hände spielen. Eine Krise der EU würde letztendlich auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger gehen. Eine politisch geschwächte und handlungsunfähige EU würde ferner das weltweite Hegemoniestreben der Bush-Administration stärken, das durch Präventivkriege und Unilateralismus den Frieden in der Welt und die internationale Sicherheit dramatisch bedroht. Das kann nicht unser Interesse sein.

Die PDS und andere Linksparteien haben den Vertrag von Maastricht zur Schaffung der Währungs- und Wirtschaftsunion sowie die Nachfolgeverträge abgelehnt, weil damit der Neoliberalismus in Beton gegossen wurde. Jetzt schafft die Verfassung Voraussetzungen, diesen Beton wieder aufzubrechen. Mit ihr ist es möglich, die Globalisierung in Europa humaner zu gestalten und eine sozial-ökologische Marktwirtschaft mit geordnetem Wettbewerb als Alternative zur Shareholder-Value-Ökonomie zu entwickeln. So wird in Europa ein „neuer Sozialvertrag“ begründet, wie das Ständige Forum der europäischen Zivilgesellschaft in seinem Aufruf Ende 2004 zutreffend betont. Europäischer Gewerkschaftsbund und DGB sehen in der Verfassung im Vergleich zur bestehenden Vertragslage eine „klare Verbesserung“ für die arbeitenden Menschen. Linke Politik in Europa kann sich auf die Verfassung stützen – im Kampf gegen Massenarbeitslosigkeit, Sozialabbau und Lohndumping.

Ich bin davon überzeugt, dass ein geeintes Europa nie zustande kommt, wenn jede politische Richtung ihre eigenen Vorstellungen zum alleinigen Maß aller Dinge erhebt. Das geeinte Europa kann nur mit dem Willen aller aufgebaut werden, und das muss von der Bereitschaft getragen sein, Vorstellungen anderer nicht einfach kompromisslos abzulehnen. Ich denke, wir sollten uns nicht anmaßen, der Aufbau eines geeinten Europas richte sich allein nach unseren Maßstäben. Auch deshalb stimme ich der Verfassung zu.

Selbstverständlich bedeutet mein Ja nicht, die notwendige Kritik am Vertragswerk unter den Teppich zu kehren. Ich werde auch weiterhin alles bekämpfen, was den Ausbau der EU zur Militärmacht befördert. Aus meiner Sicht muss die Europäische Linke ihre Anstrengungen verstärken, um mit überzeugenden friedenspolitischen Alternativen eine größere Öffentlichkeit gegen die Militarisierungsprozesse in der EU zu mobilisieren. Jetzt kommt es darauf an zu verhindern, dass die Union zu einem Abziehbild US-amerikanischer Militärmachtprojektion verkommt, dass sie sich selbst durch Aufrüstung ökonomisch und sozial schwächt und unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung in ein Kotau-Verhältnis zu den USA gedrängt wird. Da zudem alle militärischen Belange gemäß Verfassung die Zustimmung jedes beteiligten Mitgliedstaats erfordern und damit letztendlich in nationalstaatlicher Verantwortung bleiben, müssen militärinterventionistische Bestrebungen auch künftig vor allem auf nationaler Ebene bekämpft werden.

Mein NEIN zum Nein fußt zugleich auf meinem Verständnis von Demokratie. Das Entstehen der Verfassung ist mit einem Novum verbunden. Sie kam nicht durch einen hinter verschlossenen Türen vollzogenen „Überraschungscoup“ der Herrschenden zustande. Sie entstand vielmehr in einem Prozess, der sich im engeren Sinne über mehrere Jahre erstreckte. Sowohl dem Grundrechte-Konvent im Jahr 2000 als auch dem späteren Verfassungskonvent gehörten mehrheitlich Abgeordnete aus allen nationalen Parlamenten und aus dem Europäischen Parlament an. Der Verfassungsprozess verlief öffentlich und war für politisch interessierte Menschen mitverfolgbar. Artikel für Artikel des „Vertrags über eine Verfassung für Europa“ wurde öffentlich erstritten. Fast alle relevanten politischen Kräfte, die Wirtschaft oder die Europäische Zentralbank versuchten, ihre Positionen durchzusetzen. Nichtregierungsorganisationen aller Couleur, vor allem die Gewerkschaften, beteiligten sich mit konkreten Vorschlägen. Durch diese Konventsmethode gelang es trotz unterschiedlichster Vorstellungen über die Zukunft der EU, einen breiten staaten- und parteienübergreifenden Konsens zu erreichen und die bislang umfassendste Reform der Europäischen Union auf den Weg zu bringen. Die Föderalismus-Reform in Deutschland scheiterte kläglich daran, nur die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern neu zu definieren. Der europäische Verfassungskonvent hingegen konnte für ein ganzes Bündel jahrelang ungelöster Probleme Lösungen finden. Es wurde der gegenwärtig erreichbare Maximalkompromiss erzielt, und zwar nicht nur zwischen 25 europäischen Staaten, sondern vor allem zwischen jenen politischen Kräften, die mehr Europa wollen und denen, die auf die Nationalstaaten setzen oder nach Renationalisierung streben. Dies war nur möglich, weil es den gemeinsamen Reformwillen und Kompromissbereitschaft aller Beteiligten gab.

Mein NEIN zum Nein hat auch mit dem Versagen der Linken zu tun. Während der Verfassungskonvent über die Zukunft der EU stritt und europäische Geschichte schrieb, betrachtete die Europäische Linke das Geschehen im Grunde unbeteiligt aus der Ferne. Die Chance, zielgerichtet in einen ablaufenden politischen Prozess zu intervenieren, wurde vertan. Von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen gab es zu keinem Thema konkrete Vorschläge, sei es nun zur Kompetenzabgrenzung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten, zur Demokratisierung der EU, zur Ausgestaltung des Subsidiaritätsprinzips, zur Außen- und Sicherheitspolitik oder gar zur Frage eines sozialen Europas. Dies trifft leider im Kern auch auf die PDS zu, die im Unterschied zu anderen linken Parteien nicht auf eine Renationalisierung der europäischen Politik, sondern bislang auf eine progressive Weiterentwicklung der Europäischen Union orientierte. Gerade auch die Tatsache, dass zahlreiche, von uns in den 90er Jahren formulierte europapolitische Forderungen in der einen oder anderen Weise Eingang in die Verfassung fanden, macht für mich das Nein meiner Partei umso unverständlicher.

Die PDS hat sich per Parteitagsbeschluss mehrheitlich entschieden, die Europäische Verfassung abzulehnen – ohne ihre Mitglieder ausreichend über den Verfassungstext zu informieren und ohne sie mit Sachkenntnis Für und Wider gegeneinander abwägen zu lassen. Ich habe zur Kenntnis nehmen müssen, dass mein Versuch scheiterte, in der PDS gerade nach der erfolgreichen Europawahl doch noch eine gründliche Befassung mit der Verfassung und der Gesamtheit ihrer gesellschaftlichen sowie internationalen Bezüge auf den Weg zu bringen. Statt darüber nachzudenken, wie neu entstehende politische Spielräume genutzt werden können, um die Ziele linker Politik besser durchsetzen zu können, fiel man in althergebrachte Erklärungsmuster zurück. Auf der Grundlage einer die Inhalte der Verfassung verfälschenden Darstellung wurde ein Beschluss herbeigeführt, der darin gipfelt, eine Kampagne gegen die Europäische Verfassung zu führen. Darüber hinaus wird eine „andere Verfassung“ gefordert, ohne überzeugende Alternativvorschläge auf den Tisch legen zu können. Für mich ist jedoch inakzeptabel, wenn die Linke, die den Verfassungsprozess ignorierte und unfähig war, eigene substantielle Vorschläge zu präsentieren, sich heute geradezu mit Aufrufen überschlägt, um gegen die so genannte „Giscard-Verfassung“ mobil zu machen.

Als Mitglied des Grundrechte- und des Verfassungskonvents habe ich meine Arbeit in beiden Gremien als Verpflichtung angesehen, mich dafür einzusetzen, die europäische Integration zu vertiefen, sie auf eine solide demokratische Grundlage zu stellen und möglichst viele fortschrittliche Bestimmungen im Verfassungstext zu verankern. Ich bin durchaus stolz darauf, dass mehrere Dutzend Artikel der Grundrechtecharta und der Verfassung auch meine Handschrift tragen. So ist es auch Ergebnis meiner Arbeit, dass die EU künftig auf die Ziele Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt verpflichtet wird, dass für den Kampf um die Gleichstellung der Geschlechter bessere Rechtsgrundlagen geschaffen wurden, dass die Verfassung weitreichende Nichtdiskriminierungsbestimmungen enthält oder dass die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU erstmals ausdrücklich der Einhaltung der Grundsätze der UN-Charta und der Wahrung des Völkerrechts unterworfen wird – wie durch Artikel 26 Grundgesetz sind auch der EU damit Angriffskriege verboten. Letztendlich war dies nur möglich, weil das große Engagement der zahlreichen NGO den ohnehin bestehenden Reformdruck in der EU enorm erhöhte.

Straßburg, 11. Januar 2005