Bildung unter Privatisierungsdruck in Europa

Ruth Firmenich

Schule bedeutet ganztägige staatliche Gesamtschule. Es gibt kein Sitzenbleiben. Mehr als 80 Prozent eines Jahrgangs machen Abitur. Und auch Schülerinnen und Schüler stellen Beurteilungen am Ende eines Schuljahrs aus. Ein Horrorszenario? Nicht so in Finnland. Dort ist es nämlich so, und das Bildungssystem ist alles andere als in einer Krise: Bekanntlich erreichte Finnland den Spitzenplatz in der internationalen PISA-Studie, die das Leistungsniveau von Schülerinnen und Schüler bewertet. Spätestens seit dem miserablen Abschneiden der deutschen Schülerinnen und Schüler ist klar, dass das deutsche Bildungssystem alles andere als gute Ergebnisse hervorbringt und Kindern aus sozial schwachen Familien so gut wie keine Chance bietet. Und spätestens seitdem ist das Interesse gestiegen, mehr über Schulsysteme zu erfahren, die deutlich bessere Resultate erzielen.
Eine Gelegenheit dazu gab es am 17. April in Hamburg. Auf Initiative der PDS-Europaabgeordneten Feleknas Uca veranstaltete die Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) im Europaparlament ein internationales Hearing in der Hochschule für Wirtschaft und Politik (HWP) in Hamburg. Eingeladen waren neben GewerkschafterInnen und WissenschaftlerInnen auch Bildungsexperten aus verschiedenen europäischen Ländern, die über die Situation aus ihrer Perspektive berichteten. Nach der allgemein düsteren Einschätzung, die die ersten Referate über die Einordung von Bildungspolitik in die neoliberalen Strategien der EU (Feleknas Uca) sowie den grundsätzlichen Privatisierungsmythos (Prof. Herbert Schui von der HWP) vermittelt hatten, und nach der Veranschaulichung der Konsequenzen der Privatisierungsstrategien am Beispiel Deutschlands (Horst Bethge für die AG Bildungspolitik der PDS, Wolfgang Klein aus der Sicht eines Berufsschullehrers in Hamburg und Hans-Jürgen Ochs von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft am Beispiel Bremens) war die Spannung groß, nun etwas über die Situation in anderen Ländern zu erfahren.
Als Referentinnen standen Elisabeth Persson-Grip, ehemalige Parlamentsabgeordnete und heutige bildungspolitische Beraterin der Linkspartei Schwedens, Elke Renner, Mitglied der KP Österreich und Herausgeberin einer bildungspolitischen Zeitschrift sowie Kati Jauhiainen, Diplom-Pädagogin und Bildungs- und Kommunikationstrainerin aus Finnland Rede und Antwort.
Während der Bericht aus Österreich ähnlich pessimistisch war wie der aus Deutschland, zeichneten die beiden Skandinavierinnen ein ganz anderes Bild vom Erziehungswesen in ihren Ländern. Der Ansatz im Bereich Bildung ist hier ein völlig anderer. Nicht der Anspruch an die Schülerinnen und Schüler, Leistungen zu erbringen, steht im Vordergrund, sondern Schule hat den Zweck zu erfüllen, die ihr anvertrauten Kinder und Jugendlichen mit ihren jeweiligen individuellen Besonderheiten bestmöglich zu fördern und zu unterstützen. Das Schulsystem richtet sich an diesem Grundziel aus und ist entsprechend aufgebaut. So ist die Regel nicht etwa der in Deutschland vorherrschende Frontalunterricht, sondern ein Team von Lehrerinnen und Lehrer unterrichtet eine Klasse in kleinen Gruppen. Damit wird sowohl die Förderung der einzelnen Kinder verbessert als auch die Belastung für die Lehrerinnen und Lehrer reduziert, die in deutschen Schulen oftmals völlig überfordert einer Gruppe von mehr als 30 Schülerinnen und Schülern gegenüberstehen, deren Einzelbedürfnissen sie einfach nicht gerecht werden können. Aus deutscher Sicht ebenfalls völlig unvorstellbar ist die Tatsache, dass alle Kinder mit fremdsprachlichem Hintergrund Anspruch auf wöchentlich zwei Stunden Unterricht in ihrer Muttersprache haben. Dies bedeutet z.B., dass in Helsinki Unterricht in 40 verschiedenen Sprachen gegeben wird. Natürlich ist ein solches Prinzip aufwändig und kostenintensiv, aber es ist aus Integrationsgesichtspunkten mehr als sinnvoll: So haben Kinder aus Migranten- oder Flüchtlingsfamilien die Chance, beide Sprachen richtig zu lernen und nicht wie in Deutschland oft keine der beiden, da die Betreuung sowohl in der Schule als auch zu Hause fehlt.
Natürlich herrscht auch in Finnland keine heile Welt. Probleme gibt es auch dort, und über Lerninhalte und Ausgestaltung wird ebenfalls intensiv diskutiert. Die Grundzüge des Bildungssystems jedoch finden breite Unterstützung. Ein Glaubenskrieg, wie er in Deutschland von konservativer Seite um das bewiesenermaßen sozial ausgrenzende dreigegliederte Bildungssystem und um die Ganztagsschule geführt wird, ist überhaupt nicht vorstellbar – bislang zumindest nicht. Bleibt allerdings abzuwarten, welche Auswirkungen die neoliberale Ausrichtung der EU auch auf die skandinavischen Bildungssysteme hat.
Das Hearing brachte die Teilnehmerinnen nach diesem Ausflug in eine ganz andere Bildungswelt jedenfalls zum Schluss zurück in die eher düstere Realität der Bundesrepublik. In der Abschlussrunde mit Steffi Odenwald von der GEW und Volker Scharlowsky vom DGB-Bundesvorstand ging es wieder um das, was die Debatten hier zwangsläufig prägt: der Mangel an Ausbildungsplätzen und die Auswirkungen der Privatisierungsbestrebungen im Bildungsbereich vor dem Hintergrund der allgemeinen Finanzmisere.
Bleibt zu hoffen, dass die Beispiele aus Finnland und Schweden Mut machen und einen Ansporn geben, angesichts der schwierigen Lage in Deutschland nicht zu resignieren, sondern sich weiter für progressive und sozial gerechte Veränderungen im Bildungswesen stark zu machen.