Das Neuland engagiert beackert
Disput: Mit welchen Vorstellungen und Wünschen bist du 1999 nach Strasbourg und Brüssel aufgebrochen?
André Brie: Vorstellungen hatte ich kaum. Ich kannte die parlamentarische Arbeit nicht, und wie ich schnell merkte, waren auch meine Kenntnisse der EU zwar zutreffend, aber sehr abstrakt. Meine Wünsche dagegen waren groß. Ich wollte linke Politik wirksam vertreten und beitragen, dass Ziele der PDS Gehör finden. Es war die Zeit des Jugoslawienkrieges, Deutschland „dank“ Rot-Grün aktiv bei einer Aggression dabei. Unser Nein sollte unüberhörbar sein. Abrüstung und eine Sicherheitspolitik, die diesen Namen verdient, waren einmal der Gegenstand meiner wissenschaftlichen Arbeit, auch eines Kinderbuches und selbst zahlreicher Kabaretttexte. Deshalb wollte ich auch unbedingt in den Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten. Mein zweites Thema, so wollte ich es, sollte die europäische Sozial- und Beschäftigungspolitik sein, zumal ich im persönlichen Umfeld und in meinem Dorf mit vielen Menschen zu tun habe, die von Arbeitslosigkeit und sozialer Angst betroffen sind.
Welche Aufgabenschwerpunkte hast du, was betrachtest du als wichtigstes Ergebnis deiner Arbeit?
Die beiden genannten Bereiche sind sehr, sehr weit. Ich musste mich konzentrieren, erstens auf die EU-Erweiterung mit ihren politischen, aber auch sozialen Konsequenzen, zweitens auf Friedens- und Antikriegspolitik, drittens auf die europäische Beschäftigungspolitik. Was habe ich erreicht? Die PDS als Gruppe mit sechs von 626 Abgeordneten hat sehr viel mehr geschafft, als ich für möglich gehalten hatte. Für mich persönlich waren vielleicht zwei Ergebnisse besonders wichtig: Ich bin oft in Kriegsgebiete (Kosovo, Bosnien-Herzegowina, Jugoslawien, Mazedonien, Palästina, Irak, Afghanistan) gefahren, weil ich Widerstand gegen Kriege nicht nur vom Schreibtisch, auf Veranstaltungen oder im Sitzungssaal artikulieren wollte. Letztlich haben viele Abgeordnete begonnen, das und die erlebten Überzeugungen, die ich mitbrachte, zu akzeptieren. Jamie Dorans Film über die Massenmorde in Afghanistans Norden – unter den Augen und offensichtlich mit Beteiligung von US-Soldaten – ist weltweit ausgestrahlt worden. Ich glaube, dass ich dazu ein klein wenig beigetragen habe.
Und dann war da das Stahlwerk Gröditz. Eine Belegschaft, die mehr als zehn Jahre um ihren Betrieb und die Arbeitsplätze kämpfte, gefährdet durch die EU-Kommission. Gemessen an dem, was die Stahlwerkerinnen und Stahlwerker taten, war das, was ich konnte, sehr gering. Aber es hat ihnen wichtige Türen geöffnet, die Bundes- und die sächsische Landesregierung in Bewegung gesetzt. Von einigen tausend Briefen, die ich seit 1999 erhalte habe, ist jener des Gröditzer Betriebsrates nach der Rettung des Stahlwerkes 2002 für mich der wichtigste.
Wie hast du „daheim“, an der Basis linke Europapolitik verdeutlichen können?
Als Wanderprediger in der gesamten Bundesrepublik; mit Abgeordneten-Sprechstunden von Grevesmühlen und Ludwigslust bis Rostock, Ueckermünde; mit einem zweistöckigen Europabüro, das inzwischen für Schülerinnen und Schüler sowie viele andere zu dem Europapunkt in Schwerin geworden ist; mit intensiver Zusammenarbeit mit zahlreichen sozialen und anderen Organisationen, Schulen, Unternehmen, Landräten, Kommunalpolitikerinnen und -politikern.
Warum sollen sich PDS-Mitglieder – in der Uckermark ebenso wie am Bodensee – für den Einzug einer starken PDS-Gruppe ins neue Europaparlament einsetzen?
Weil eine wirkungsvolle sozialistische Partei in Deutschland dringend gebraucht wird, weil die PDS darum ringt, sicherlich auch mit Fehlern, aber vor allem mit Ehrlichkeit, soziale und solidarische Alternativen zum Neoliberalismus der anderen Parteien zu vertreten, weil viele Menschen in anderen europäischen Ländern hoffen und wollen, dass es in Deutschland eine starke Linke gibt, weil die PDS im EP sicherlich bei weitem nicht alles erreicht, was sie will, aber dafür leidenschaftlich streitet, und weil die PDS nicht nur ein soziales, friedliches und demokratisches Europa will, sondern anders Politik macht als die meisten anderen Politiker – bei den Menschen, mit ihnen.
Das Gespräch führte Disput mit André Brie.