Neues vom EU-Verfassungsvertrag
Mitten in der parlamentarischen Sommerpause, am 6. August 2004, warteten die Brüsseler Beamten mit einer Überraschung auf: Präsentiert wurde die endgültige, die so genannte konsolidierte Fassung des EU-Verfassungsvertrages, der am 29. Oktober 2004 von den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten sowie den Regierungschefs Rumäniens, Bulgariens und der Türkei unterzeichnet werden soll. Wer erwartet hatte, dass es nach der Verabschiedung des Entwurfs im Juni 2004, nach 16 Monaten Konvent und 10-monatiger Regierungskonferenz, nur noch um unwesentliche Änderungen, wie vergessene Interpunktionszeichen, gehen sollte, sah sich getäuscht.
Hinter verschlossenen Türen hatte man sich auf eine völlig neue Nummerierung des Verfassungsvertrages geeinigt. So trägt der „berühmt-berüchtigte“ Militarisierungsartikel nunmehr die Nummer I-41 statt I-40. Angesichts eines Verfassungsvertrages mit jetzt über 460 Artikeln auf insgesamt 350 Seiten, dazugehörigen nochmaligen 350 Seiten mit Protokollen und über hundert Seiten vorbereiter Erklärungen zum Vertrag, stellt sich die Frage, ob das anfängliche Ziel, die Erarbeitung eines verständlicheren, transparenteren und eines somit für Bürgerinnen und Bürger lesbareren Vertragstextes überhaupt erreicht worden ist.
Auffällig sind auch schönfärberische Umarbeitungen der Begrifflichkeiten. Nachdem in der Verfassungsdiskussion über Jahre hinweg von einer „Rüstungsagentur“ die Rede war, findet sich im endgültigen Text nur noch der Begriff „Verteidigungsagentur“. Über die Motive darf spekuliert werden. Wie auch im Falle einer Wortumstellung im Hinblick auf die vertraglich fixierten Ziele der EU: So sollen künftig nicht mehr die „Interessen und Werte“ der EU weltweit durchgesetzt werden, sondern nur noch die „Werte und Interessen“. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Klingt jedenfalls harmloser, so werden sich die Beamten gedacht haben.
Geradezu komisch mutet der Versuch Giscard d’ Estaings an, die gravierenden Veränderungen in der konsolidierten Fassung zu verharmlosen. So kam der ehemalige Konventspräsident bei einer persönlichen Zählung auf lediglich 700 veränderte Wörter in Teil I und II des Konventsentwurfs.
Bemerkenswert auch, dass sich im Vertragstext jetzt nicht nur das „Recht auf unternehmerische Freiheit“ findet, sondern, im Unterschied zum Konventsentwurfs, die wenigen sozialen Grundrechte auch noch weiter relativiert werden. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die im Entwurf erwähnten sozialen Grundrechte lediglich eine Art Gegengewicht zur gleichzeitig aufgenommenen Verpflichtung auf den „Grundsatz der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ bilden, muss man jetzt endgültig enttäuscht sein. In Artikel II-112 Abs. 7 wurde nun der Bezug auf die von den Präsidien des Grundrechte- und des Verfassungskonvents verfassten Erläuterungen aufgenommen. Noch im Grundrechtekonvent hatten sich linke Mitglieder wie auch der Europäische Gewerkschaftsbund gegen eine Aufnahme dieser Erläuterungen erfolgreich zur Wehr setzen können. Jetzt wurden sie als 70-seitiger autoritativer Kommentar in Erklärung Nr. 12 dem Verfassungsvertrag offiziell beigefügt. Wer einen Blick auf dieses Dokument wagt, muss sich in seiner Skepsis bestätigt sehen. Die Relativierung der sozialen Grundrechte wird dort regelrecht zelebriert.
Nach der Unterzeichnung der Verfassung in Rom wird es noch einmal ungefähr zwei Jahre dauern, bis in jedem einzelnen Mitgliedstaat – entweder per Parlamentsbeschluss und/oder Referendum – über den Vertrag entschieden worden ist. Schon jetzt scheint die bewusste Nichtinformation über den Inhalt des EU-Verfassungsvertrages erklärtes Ziel zu sein. Kanzler Schröder und Außenminister Fischer wollen den Text mit der erforderlichen 2/3 Mehrheit in Bundestag und Bundesrat möglichst rasch ratifizieren. Auf der Ebene des Europäischen Parlaments werden sie dabei vehement unterstützt vom sozialdemokratischen Vorsitzenden des Ausschusses für Konstitutionelle Angelegenheiten, Jo Leinen. Er forderte: „Die Verfassung von 2004 muss Realität werden“ und diffamiert zugleich alle Kritikerinnen und Kritiker des Vertragstextes im Namen des gesamten Ausschusses: „Der Verfassungsausschuss sieht die Gefahr, dass der europäische Geist (…) während der kommenden Monate in den nationalen Debatten auf der Strecke bleibt. Man spürt bereits, dass es gegen die Verfassung Populismus und Opportunismus gibt. Bedenklich ist, dass dieser Bazillus auch schon eines der Gründungsmitglieder der EU befallen hat.“
Giscard hatte schon frühzeitig klar gemacht, dass der Verfassungsvertrag kein Vertrag à la Maastricht, Amsterdam oder Nizza sein solle. Er erklärte: „Wir schaffen eine Verfassung für 50 Jahre, damit die europäischen Bürger wissen, wie es weiter gehen soll.“ Wer nicht will, dass es auf diese Weise weitergeht, hat nur die Chance, für ein Referendum einzutreten und zugleich eine Kampagne unter dem Motto „Nein zu diesem Verfassungsvertrag!“ ins Leben zu rufen, um diesen antisozialen, neoliberalen und friedensgefährdenden Vertrag zu stoppen.n
Der Text der EU-Verfassung kann im Internet unter der Adresse http://ue.eu.int/cms3_applications/Applications/igc/doc_register.asp?lang=DE&cmsid=576 downgeloaded werden.