Dienstleistungsbinnenmarkt: Das Europäische GATS
Nachdem 2003 das zehnjährige Bestehen des Europäischen Binnenmarkts fröhlich abgefeiert wurde, soll Europas Wirtschaft nun erneut durch sogenannte „Strukturreformen“ flott gemacht werden. Die auf drei Jahre (2003 – 2006) angelegte Binnenmarktstrategie der Kommission will den Binnenmarkt weiter vertiefen und neue Liberalisierungsprojekte anschieben. Kernstück ist die Schaffung eines Binnenmarkts für Dienstleistungen bis 2010. Dazu hat die Kommission im Januar 2004 den Entwurf einer Rahmenrichtlinie vorgelegt. Der programmatische Titel lautet: „Abbau der bürokratischen Hindernisse für die Wettbewerbsfähigkeit Europas“. Nachdem der geplante Ausbau des WTO-Abkommens über eine weltweite Liberalisierung von Dienstleistungen (GATS) bislang nicht zustande gekommen ist, macht die Kommission nun in der EU Druck mit einem eigenen Projekt.
Dessen Bedeutung kann nicht genug hervorgehoben werden. Der Dienstleistungssektor steht im EU-Durchschnitt inzwischen für 70 % der Wirtschaft, die vom Richtlinienvorschlag betroffenen Dienstleistungen für 50 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit der EU.
Unter die Richtlinie fielen sämtliche Dienstleistungstätigkeiten, die gegen Entgelt geleistet werden. Nach dieser Definition von „Dienstleistungen“ wären somit auch all jene öffentlichen Dienste erfasst, für deren Nutzung schon jetzt Gebühren zu entrichten sind: öffentlich-rechtlicher Rundfunk, Ver- und Entsorger, Wasser- und Klärwerke, Kindergärten, Krankenhäuser, Volkshochschulen oder Universitäten. Die Kommission will offenbar mit dieser Richtlinie Fakten schaffen, bevor die mit dem Grünbuch und dem Weißbuch über „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ begonnene Debatte über die Organisation der Daseinsvorsorge in Europa überhaupt richtig angefangen hat.
Erstmals würde mit einer Binnenmarktrichtlinie in Bereiche eingegriffen, die bisher durch die Sozialschutzsysteme geprägt wurden, wie Gesundheitssysteme und Pflegedienste. Hier will die Kommission Fragen der Kostenerstattung regeln, um europaweit die Mobilität von Patienten zu fördern (z. B. Erstattung von ambulanter Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat zu den Sätzen des Herkunftslands, eventuelle Genehmigung für Krankenhausbehandlung).
Zur Gewährleistung des freien grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs soll das Herkunftslandprinzip gelten. Demnach unterliegt „der Dienstleistungserbringer einzig den Rechtsvorschriften des Landes (…), in dem er niedergelassen ist.“ Und die Mitgliedstaaten dürfen „die Erbringung von Dienstleistungen durch in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassene Dienstleistungserbringer nicht beschränken“. Dieses Prinzip wird durch einige generelle Ausnahmeregelungen, Übergangsregelungen und spezielle Ausnahmen für Einzelfälle ergänzt.
Mit dem Herkunftslandprinzip würde ein radikaler Wettbewerb der mitgliedstaatlichen Rechtssysteme eingeleitet. In jedem einzelnen Mitgliedstaat würden künftig bis zu 25 verschiedene Unternehmens-, Sozial- und Tarifrechtsysteme etc. neben- und miteinander konkurrieren. Im Vorteil wären Dienstleistungserbringer aus jenen Mitgliedstaaten, welche die jeweils niedrigsten Standards in Bezug auf die Kontrolle der Unternehmertätigkeit, die Qualifikationsanforderungen, Qualitätsstandards und Qualitätskontrolle, die Besteuerung und die Sozial- und Beschäftigungsbedingungen sowie den Umwelt- und Verbraucherschutz aufweisen. Im Ergebnis würden durch die Richtlinie ungleiche Wettbewerbsbedingungen innerhalb der EU geschaffen, die in einen radikalen Unterbietungs- und Dumpingwettlauf münden.
Als soziale Beruhigungspille behauptet die Kommission, dass für die Entsendung von Arbeitnehmern weiter das Bestimmungslandsprinzip der geltenden EU-Entsenderichtlinie bestehen bleibe. Die Entsenderichtlinie sieht vor, dass die „Kernarbeitsnormen“ des Bestimmungslandes gelten – etwa gleiches Mindestentgelt, gleiche Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten etc. für entsendete wie einheimische Arbeitnehmer am gleichen Arbeitsort. Der Richtlinienentwurf nimmt dem Bestimmungsland aber nahezu alle effektiven Kontrollmöglichkeiten. Für die Einhaltung des Entsenderechts soll nämlich das Entsendeland selbst zuständig werden.
Welches Interesse aber sollte z.B. Portugal daran haben, dass von seinen im Ausland tätigen Dienstleistern französische „Kernarbeitsnormen“ eingehalten werden? Und wie sollte es diese Einhaltung effektiv kontrollieren, da es ja mangels Hoheitsbefugnissen keine Kontrollen außerhalb seines Staatsgebiets vornehmen kann? Bereits jetzt treten in der Praxis unzählige Verstöße gegen das Entsenderecht auf, die z.B. mangels EU-Regelungen zur Vollstreckung von Bußgeldbescheiden in anderen Mitgliedstaaten, mangels flächendeckender Kontrollen etc. nicht verfolgt werden. Die vorgesehene Neuregelung würde diesen Bereich endgültig in ein Paradies für Scheinfirmen, zwielichtige Personalvermittler und Sozialabgabenhinterzieher verwandeln.
Dies sind nur einige der wesentlichen Probleme des Richtlinienentwurfs (weitere Infos siehe unten). Er wird inzwischen von einigen Regierungen der Mitgliedstaaten, dem Bundesrat, der mittelständischen Bauwirtschaft sowie von Gewerkschaften und NGOs deutlich kritisiert. Die Europaabgeordneten der PDS wollen mit einer breiten Aufklärungskampagne im Bündnis mit Gewerkschaften, Attac und anderen politischen Kräften dazu beitragen, dass dieser Richtlinienentwurf gestoppt wird.
Weitere Infos zum Dienstleistungsbinnenmarkt
Den Richtlinienentwurf der Kommission und weitere Dokumente zum Dienstleistungsbinnenmarkt sind auf folgender Website zu finden: www.europa.eu.int/comm/internal_market/de/services/services/index.htm
Ausführliche kritische Analysen des Richtlinienentwurfs bietet Attac Deutschland unter: www.attac.de/gats/. Dort kann der Rundbrief der EU-AG von Attac heruntergeladen werden, der zahlreiche kritische Beiträge zum Dienstleistungsbinnenmarkt enthält, außerdem ein längeres Hintergrundpapier zur Richtlinie von Thomas Fritz, dem GATS-Experten von Attac sowie die Stellungnahme des Bundesrats vom April 2004.
Die PDS-Delegation im Europäischen Parlament hat einen Musterantrag gegen den Richtlinienentwurf erarbeitet, der ab sofort unter www.pds-europa.de abrufbar ist und für die weitere Arbeit genutzt werden sollte.