Die Linke im Europäischen Parlament – wie weiter?

Andreas Wehr

Die Fraktionen sind gebildet und mit den ersten Abstimmungen wird jetzt die Machtverteilung in dem am 13. Juni 2004 neu gewählten Europäischen Parlament sichtbar. Der Vorsprung der Konservativen gegenüber den europäischen Sozialdemokraten wurde größer. Sie konnten ihre anfangs drohende Spaltung in eine integrationsskeptische und in eine integrationsbereite Fraktion vermeiden. Die europäischen Sozialdemokraten sind in dem von 626 auf 732 Abgeordnete vergrößerten Parlament nur noch mit 200 Mandaten vertreten, die Fraktion der Konservativen/Christdemokraten zählt hingegen 276. Die liberale Fraktion vergrößerte sich um gut ein Drittel. Und sowohl die euroskeptische Gruppe der „Unabhängigkeit und Demokratie“ als auch die von nationalistischen Abgeordneten gebildete „Union für das Europa der Nationen“ wuchsen ebenfalls an. Beide Fraktionen werden – zumindest in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen – Teil der breiten rechten Mehrheit sein. Die Sozialdemokraten, aber auch die Grünen, werden in dieser Situation, wie schon in den vergangenen Jahren, erneut auf breite parlamentarische große Koalitionen setzen, um so wenigstens an der Machtverteilung beteiligt zu sein.
Wie steht nun die Linke im Europäischen Parlament da? Mit einem Wort: Sie hat sich behauptet. 41 Abgeordnete zählen sich zu ihr, sind demnach Mitglied in der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL). Dies sind zwei weniger als seinerzeit am Beginn der letzten Legislaturperiode 1999. Die Fraktion liegt damit fast gleichauf mit den Grünen, die 42 Sitze haben.
Das erreichte Ergebnis ist für die europäische Linke um so bemerkenswerter, da die Zahl der in den alten EU-Staaten gewählten Abgeordneten aufgrund der Erweiterung der Union fast überall reduziert wurde. Insbesondere die linken Parteien in kleinen Mitgliedstaaten hatten es daher schwer, ihre Mandate wieder zu erringen. Trotz dieser ungünstigen Ausgangssituation konnten aber einige linke Parteien ihre Stellung sogar ausbauen, etwa in Italien, in Griechenland, in den Niederlanden und in Deutschland die PDS. Herbe Einbrüche gab es hingegen in Spanien und Frankreich, wobei das französische Wahlsystem dort alle kleinen Parteien krass diskriminierte. Hat die Linke damit ihre Stellung in etwa halten können, so kann allerdings nicht übersehen werden, dass sie am Wachstum des Parlaments aufgrund der Osterweiterung von 626 auf nun 732 Mandate nicht teilnahm. Aus den Beitrittsländern kamen ganze acht Abgeordnete zu ihr. Die relative Bedeutung der Linken wird daher im neuen Parlament geringer sein. Dies gilt im gleichen Maße für die ebenfalls auf der Stelle tretenden Grünen, die aus den hinzu gekommenen Ländern faktisch keine Verstärkung erhielten.
Das spannende Experiment der Zusammenarbeit einer inhaltlich, kulturell und auch von ihren Persönlichkeiten ausgesprochen breiten und heterogenen europäischen Linken kann daher fortgesetzt werden. Beachtung sollte allein die Spannbreite der hier vertretenen Parteien finden, die übrigens schon in ihrem komplizierten Namen „Konföderale Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke“ zum Ausdruck kommt. In einer an Abgrenzungen, Spaltungen und Rivalitäten überaus reichen europäischen Linken ist dies bekanntlich alles andere als selbstverständlich. Unter dem Dach der konföderalen Fraktion arbeiten sowohl Abgeordnete aus den sich als rotgrün verstehenden skandinavischen Linksparteien zusammen als auch die aus den Kommunistischen Parteien Griechenlands und Portugals, die am Marxismus/Leninismus festhalten. Haben sich die einen Parteien den so genannten neuen sozialen Fragen der Frauen- und Ökologiebewegung breit geöffnet, so orientieren andere weiterhin auf die Arbeiterklasse als handelndes Subjekt. Sehen sich die einen, wie etwa die italienische Rifondazione, als „Bewegungspartei“, so beharren andere auf der zentralen Rolle eines geschlossenen Funktionärskörpers. Und als assoziierte Mitglieder arbeiteten in der letzten Legislaturperiode sogar die ansonsten nur eigenständig auftretenden französischen trotzkistischen Parteien LO und LCR mit. Die politische Breite ist damit um einiges größer als etwa in der vor kurzem gegründeten „Europäischen Linkspartei“, zu der sich weder die skandinavischen Linken noch die klassischen kommunistischen Parteien bekennen.
Der Widersprüche in einer solch breiten Fraktion sind natürlich viele, doch führten sie bisher nicht zu ihrem Auseinanderbrechen. Im Gegenteil: Der Bestand an gemeinsamen Positionen ist in den letzten Jahren eher größer als kleiner geworden, etwa in der inzwischen fast einstimmigen Ablehnung des Entwurfs eines europäischen Verfassungsvertrags. Doch als konföderale Fraktion kennt die GUE/NGL – im Unterschied zu manch anderen Fraktionen im EP – auch faktisch keinen, auch noch so milden, Fraktionszwang. Sieht man sich aber einmal die Protokolle der Abstimmungen genau an, so stellt man überrascht fest, dass in den meisten Fragen die Positionen der linken Abgeordneten dennoch sehr dicht aneinander liegen.
Dieser föderale Charakter der linken Fraktion könnte auch dazu führen, dass sie in den nächsten Jahren größer wird. Bereits in der letzten Legislaturperiode wuchs die GUE/NGL von anfangs 42 auf schließlich 49 Abgeordnete an. Damals kamen vor allem sozialdemokratische Abgeordnete hinzu, die sich nicht mehr dem Zwang in ihrer Fraktion beugen wollten. Betrachtet man den aktuellen Streit innerhalb der französischen Sozialisten über ihre Haltung zur Europäischen Verfassung, so ist nicht auszuschließen, dass es erneut so kommen könnte.