Der Fahrplan für weiteren Sozialabbau in Europa wird geschrieben
Die niederländische Präsidentschaft hat sich für die nächsten Monate zum Ziel gesetzt, die Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Senkung des Sozialstaatsniveaus weiter zu fördern und zu koordinieren. Flankiert werden sollen die Schritte durch folgenschwere Richtlinienentwürfe in den Bereichen Dienstleistungen, Arbeitszeit und Leiharbeit. Sie werden gegenwärtig auf der Ebene des Wettbewerbsrates vorbereitet. Für die Linke in Europa besteht akuter Handlungsbedarf, um sowohl die Positionen der nationalen Regierungen im Vorfeld der Entscheidungen in die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu bringen, als auch, um den mitentscheidenden Europaparlamentarien ihre Verantwortung ins Bewusstsein zu rufen.
Wichtigste Eckdaten sind dabei der Gipfel am 8./9. November 2004 zur Koordinierung der Sozialpolitiken und der Frühjahrsgipfel zur Auswertung und Stärkung der im Jahr 2000 vereinbarten „Lissabon-Strategie“. Deren Ziel, die EU bis 2010 „zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen“, erzwang nach neoliberaler Logik den drastischen Rückbau der Sozialsysteme. Versprochen wurde, dass diese Maßnahmen, zusammen mit einem jährlichen durchschnittlichen Wirtschaftswachstum von drei Prozent, wirtschaftlichen Strukturreformen und mehr Innovation zur Vollbeschäftigung führen würden.
Um die Ziele der Lissabon-Strategie zu erreichen, fordern Rat und Kommission die beschleunigte Umsetzung der beschlossenen Projekte auf EU-Ebene und einen energischeren Kurs der Mitgliedstaaten bei ihren nationalen „Wirtschafts- und Sozialreformen“.
Zu diesem Zweck werden seit 2003 die wirtschaftspolitischen Leitlinien, die Binnenmarktstrategie und die beschäftigungspolitischen Leitlinien im gleichen Rhythmus erstellt und die Verfahren gestrafft. Ab 2006 soll nach einem Vorschlag der Kommission noch eine zusammenfassende Strategie im Bereich des Sozialschutzes hinzukommen. Diese würde dann die drei bisher nebeneinander betriebenen europäischen Koordinationsprozesse zur sozialen Eingliederung, zu den Rentenreformen sowie zur Gesundheitsversorgung und Altenpflege zusammenfassen.
Unter diesen Leitlinien gewannen in den letzten Jahren die zur Wirtschaftspolitik im Rahmen der Lissabon-Strategie eine unbestrittene Führungsrolle. Beschäftigungs- und Sozialpolitik müssen diesen übergeordneten Vorgaben folgen. Die wirtschaftspolitischen Leitlinien beinhalten unter anderem eine „Erklärung“ für die Arbeitslosigkeit in der EU, die ihresgleichen sucht. Dort heißt es: „Dass das Pro-Kopf-BIP (der EU; G. Z.) deutlich unter dem US-Niveau liegt, erklärt sich vor allem daraus, dass weniger Personen eine Beschäftigung haben und diese tendenziell weniger Stunden arbeiten. Dies mag zum Teil darauf zurückzuführen zu sein, dass der Freizeit ein höherer Stellenwert beigemessen wird, lässt sich in vielen Fällen jedoch auf die bloße Frage reduzieren, ob sich Arbeit lohnt (Hervorhebung im Original). Durch relativ großzügige bzw. liberale Sozialleistungssysteme oder durch Vorruhestandsanreize wurden viele Menschen wirksam ermutigt, den Arbeitsmarkt zu verlassen oder erwerbslos zu bleiben.“
Die Parallele zu Geist und Maßnahmen der Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung und den Hartz-IV-Reformen ist offenkundig: Der Sozialstaat ist schuld an der hohen Arbeitslosigkeit, deshalb muss er „modernisiert“ und die Arbeitsmärkte von Regulierungen befreit werden.
Und so verwundert es auch kaum, dass die EU-Sozialminister bei ihren ersten informellen Beratungen über mögliche Schwerpunktthemen der „sozialpolitischen Agenda 2007 – 2013“ in die gleiche Richtung dachten. Stichworte sind dort: „Verlängerung des Arbeitslebens“, „Modernisierung der Sozialschutzsysteme“, „Ausgleich zwischen Rechten und Pflichten“, „Gewährleistung von Flexibilität und Sicherheit“, „Arbeit lohnenswert machen“, usw. Die niederländische Ratspräsidentschaft will die so gefärbten Schlussfolgerungen der Sozialminister auf der Ratstagung vom 8. und 9. November 2004 unter dem schönen Titel zusammenfassen: „Ein soziales Europa: Lasst es uns vollbringen.“ Und auch die kommende Frühjahrstagung des Rates im März 2005, die eine Halbzeitbilanz der Lissabon-Strategie ziehen und einen Bericht einer hochrangigen Expertengruppe um den ehemaligen niederländischen Ministerpräsidenten Wim Kok zu ihrer beschleunigten Fortsetzung beraten wird, dürfte zu einem Lehrstück in Orwellschem „Neusprech“ werden: Sozialstaatsabbau führt zum „sozialen Europa“!
Der Weg in die magersüchtige Zukunftsversion des „Europäischen Sozialstaatsmodells“, das in Kosten und Wirksamkeit immer weniger das System der USA übertreffen wird, ist Konsequenz einer deutlichen Zuspitzung der Lissabon-Strategie auf wirtschaftsliberale „Strukturreformen“. Das Versprechen einer daraus resultierenden Vollbeschäftigung erfüllt zumindest das Kalkül, die Duldsamkeit der Sozialpartner herbeizuführen.
Wichtiges Koordinierungsgremium des Prozesses ist seit Juni 2002 der Ministerrat „Wettbewerbsfähigkeit“, der die Themenfelder Binnenmarkt, Industrie und Forschung abdeckt. In ihm spielt Wolfgang Clement eine wichtige Rolle bei der Umsetzung und Weiterentwicklung der Lissabon-Strategie. Hier werden Aktionen und Maßnahmen gebündelt, um die „Wettbewerbsfähigkeit“ der EU-Wirtschaft zu fördern: Vereinfachung der Vorschriften für Unternehmen, verstärkte Forschungsanstrengungen auf „Zukunftsfeldern“ (Informations- und Kommunikationstechnologie, Gen- und Nanotechnologie usw.), Schaffung eines integrierten liberalisierten EU-Finanzmarktes, eines Binnenmarkts für Dienstleistungen und vieles mehr. Die Mantras lauten „Mehr Wettbewerb“ und „bessere Rahmenbedingungen für unternehmerische Initiative“.
Die Regierungen der Mitgliedstaaten und die Kommission haben längst eine Kooperation etabliert, durch die Sozialstaatsabbau in den Mitgliedstaaten und EU-Politiken unter der Klammer der Lissabon-Strategie sich gegenseitig stärken und legitimieren.
Der Widerstand dagegen ist leider bislang weniger vernetzt. Die durchaus massiven Aktionen, bis hin zu beeindruckenden Generalstreiks in mehreren Ländern gegen Renten- und Arbeitsmarktreformen, hatten stets nur die eigene nationalstaatliche Ebene im Visier und die jeweilige Regierung als Gegner. Wenn wir die europäische Dimension dieser Konflikte mehr ins Visier nähmen, könnten wir uns gegenseitig stärken und von den gemachten Erfahrungen anderer profitieren. Das Europäische Sozialforum in London (15.-17.10. 2004) wird mehr als 20.000 Aktiven hierzu eine Gelegenheit bieten, Kontakte zu knüpfen, die wir als PDS-Delegation im EP, als Fraktion GUE/NGL und als Europäische Linkspartei in der Zukunft stärker ausbauen wollen.