Barroso und die Verfassung

Ist das Debakel um die Brüsseler Kommission ein Omen für das »EU-Grundgesetz«?
Artikel, erschienen in Neues Deutschland, 28.10.2004

Es hätte alles so schön werden können. Am morgigen Freitag wollen die Regierungschefs der 25 EU-Mitgliedstaaten sowie Rumäniens, Bulgariens und der Türkei den EU-Verfassungsvertrag in Rom feierlich unterzeichnen und damit zur Ratifikation freigeben. Der Ort der Unterzeichnung war mit Bedacht gewählt worden, denn die europäische Verfassung sollte in die Kontinuität der 1957 geschlossenen Römischen Verträge gestellt werden. Die Feierstimmung dürfte den Regierungen nun durch das Europaparlament gründlich verhagelt worden sein.
Gestern, nachdem sich abzeichnete, dass es im Parlament nicht zu einer Mehrheit für die vom designierten Kommissionspräsidenten Barroso vorgestellte EU-Kommission kommen würde, zog dieser den Vorschlag kurzerhand zurück. Das ersparte Barroso zwar die Abstimmungsniederlage, war aber für ihn und insbesondere den Europäischen Rat ein Schlag ins Gesicht: Schließlich waren es die Regierungen der Mitgliedstaaten, die ihre Kandidaten für die Kommission auswählten; dem designierten Kommissionschef überließen sie lediglich die Verteilung der Portfolios.
Dem Parlament gaben sie trotz harscher Kritik an einigen Anwärtern zu verstehen, dass das vorgestellte Kollegium nicht verhandelbar wäre. Nun wurde ihnen die Rechnung präsentiert. Den Regierungschefs steht jetzt jede Menge Arbeit bevor. Das Europäische Parlament hat deutlich gemacht, dass es nicht bereit ist, der Kommission im nächsten Anlauf ein positives Plazet zu geben, wenn es lediglich eine Ressortumverteilung gibt. Insbesondere die Fraktion der Vereinten Europäischen Linken, aber auch – gleichwohl in abgeschwächter Form – andere Fraktionen fordern einen neuen Politikansatz, der durch neue Personen repräsentiert wird. Letztlich hat das Debakel gezeigt, was dabei herauskommt, wenn Regierende keine Rücksicht auf Meinungen nehmen, die ihrer eigenen Auffassung widersprechen.
Ist das ein Omen für die europäische Verfassung? Der jetzt vorliegende Vertragsentwurf trägt weiterhin die zentralen Mängel des Konventsentwurfes. Die neoliberale Wirtschaftsordnung erhält mit ihm Verfassungsrang, die EU wird weitere verhängnisvolle Schritte auf dem Weg zur Militarisierung gehen. So heißt es unverändert, dass sich »die Mitgliedstaaten verpflichten (…), ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern«. Auch soll ein gemeinsames Rüstungsamt geschaffen werden.
Auch zu diesem Verfassungsentwurf kann man letztlich nur ja oder Nein sagen – so, wie man auch zu der gesamten Kommission nur ja oder Nein sagen konnte. Trotz einer Vielzahl positiver Veränderungen im Verfassungsentwurf, wie größerer Einflussmöglichkeiten für lokale und regionale Gebietskörperschaften, mehr Mitentscheidungsrechten für das Europäische Parlament, einer gerechteren Stimmenverteilung im Rat, wodurch sich die Übermacht der bevölkerungsreichen Länder relativiert, und der Aufnahme der Grundrechtecharta in Teil II der Verfassung (obwohl diese in ihrer Wirkungskraft durch Anhänge bereits wieder abgeschwächt wird), hat sich an den Hauptkritikpunkten nichts geändert.
Aus diesem Grund positionieren sich kritische Gewerkschafter, Friedensgruppen, Globalisierungsgegner, die PDS und die Europäische Linkspartei wie kürzlich auf ihrem Treffen in Rom klar gegen diese Verfassung. Für sie alle ist ein anderes Europa möglich: ein demokratischeres, soziales, friedliches, die Natur bewahrendes Europa – aber nur mit einer anderen Verfassung.