Brüsseler Spitzen Club der Marktdogmatik Von Sahra Wagenknecht, erschienen in „Neues Deutschland“, 29. Oktober 2004
Gepokert wurde bis zuletzt. Doch dann stand fest, dass die neue EU-Kommission im Europäischen Parlament keine Mehrheit finden würde. Mit Blick auf die absehbare Niederlage zog der zukünftige Kommissionspräsident Barroso in letzter Minute sein Personaltableau zurück. Letztlich war es Buttiglione, designierter Kommissar für Inneres und Justiz, der die breite Front der Ablehnung zu verantworten hat. Dass Homosexualität eine Sünde sei, allein Erziehende schlechte Mütter und die Frau dem Manne Untertan, das war dann auch den Liberalen zu viel.
Es ist erfreulich, dass Stockreaktionäre vom Schlage eines Buttiglione im EU-Parlament nicht mehrheitsfähig sind. Trotz der faulen Kompromissvorschläge Barrosos und trotz massiven Drucks einiger EU-Regierungen. So hatte Blair versucht, britische Labour-Abgeordnete telefonisch einzuschwören und Schröder die SPD-Parlamentarier über die Presse aufgefordert, die Kommission abzusegnen. Aber: Buttiglione ist nur die Spitze eines reaktionären Eisbergs.
Zwar ist noch keine EU-Kommission durch besonderes soziales Engagement aufgefallen, doch der in Barrosos »Dream-Team« versammelte Geist rücksichtsloser Marktdogmatik und Konzernloyalität bis hin zu Korruption und dunklen Geldgeschäften dürfte alles weit in den Schatten stellen. Mit der Niederländerin Nellie Kroes etwa sollte künftig das Fusionsgebaren der Multis von einer Frau überwacht werden, die bis vor kurzem in 42 Aufsichtsräten saß, u.a. jenen der Rüstungsschmiede Thales und des Telekomanbieters MMO2, gegen den derzeit in Brüssel ein Verfahren läuft. Als niederländische Verkehrsministerin war Frau Kroes bereits durch undurchsichtige Rüstungsaktivitäten und Korruptionsskandale aufgefallen. Was sie in den Augen der Herrschenden für den Posten qualifiziert, ist nicht etwa Fachkompetenz – ihre Sachkenntnis wurde selbst vom konservativen Wirtschaftsausschuss bemängelt – als vielmehr ihre bedingungslose Hörigkeit gegenüber den Interessen des Kapitals, die sie mit der frühzeitigen Privatisierung von Post, Postbank und Telekom in den Niederlanden unter Beweis gestellt hatte.
Karrierefördernde Privatisierungserfahrungen hat auch die Lettin Ingrida Udre, die unter anderem den größten Ölhafen ihres Landes privatisiert und dabei die Kasse ihrer Partei – dem Vernehmen nach auch die eigene – durch illegale Spenden kräftig aufgebessert hat. Frau Udre gehört nach einer Umfrage zu den unbeliebtesten Politikern in Lettland – für den Brüsseler Job freilich kein Hinderungsgrund. Auch ihr bescheinigte der Wirtschaftsausschuss Qualifikationsdefizite.
Der deutsche Vertreter in der Kommission, Verheugen, ist zum Industriekommissar und Koordinator der neu gebildeten Lissabon-Gruppe aufgestiegen und will in dieser Eigenschaft dafür sorgen, dass die »internationale Konkurrenzfähigkeit der EU-Unternehmen Vorrang vor sozialer Kohäsion und Umweltverträglichkeit« (Handelsblatt) hat. Der Ire McCreevy machte kein Hehl daraus, dass er die berüchtigte Richtlinie seines Vorgängers Bolkestein zur Liberalisierung des europäischen Dienstleistungsmarktes ohne größere Abstriche durchzupeitschen gedenkt.
Es geht also wahrlich nicht nur darum, einzelne Kommissare auszutauschen. Eine grundlegend andere Richtung wäre gefragt – und wird nur erreichbar sein, wenn jene, die die Zeche für diese Art Politik zu zahlen haben, dem Brüsseler Kungelclub mit erstarkendem Widerstand endlich einen Strich durch die Rechnung machen.
Sahra Wagenknecht sitzt seit diesem Jahr für die PDS im Europaparlament und ist dort Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Währung.
(ND 29.10.04)