Schaukämpfe um Verfassung

Andreas Wehr

Die SPD-Bundestagsfraktion will noch in diesem Herbst einen Antrag über die Einführung von Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden in das Grundgesetz einbringen. Wird es nun also auch in Deutschland eine Volksabstimmung über die EU-Verfassung geben?
Wohl kaum. Im leidigen Parteienstreit über das Für und Wider einer solchen Abstimmung hat sich in der Sache selbst nichts bewegt. Die SPD wird lediglich ihre alte Initiative zur Änderung des Grundgesetzes vom Juni 2002 noch einmal vorlegen. Sie weiß dabei genau, dass sie wiederum scheitern wird, da sich CDU/CSU der Herstellung einer verfassungsändernden Mehrheit erneut verweigern werden. Dort können sich einige christdemokratische Politiker, vor allem in der CSU, allenfalls vorstellen, ausnahmsweise eine Abstimmung über den Entwurf einer Europäischen Verfassung durchzuführen, und auch nur dann, wenn sie Teil eines europaweiten Referendums ist. Von einer dauerhaften Verankerung plebiszitärer Elemente im Grundgesetz hält man dort nichts.
Bei der SPD will man aber von einer solchen Ausnahme für die EU-Verfassung nichts wissen. Man sieht darin nur eine unziemliche Art der »Rosinenpickerei«. So schlagen sowohl SPD als auch CDU/CSU angeblich gangbare Wege zur Ermöglichung einer Volksabstimmung über die Europäische Verfassung vor, von der beide Seiten sicher sein können, dass sie die am Ende nicht gemeinsam betreten werden. Und dieses Ergebnis ist wohl auch gewollt, da weder SPD noch CDU/CSU, und auch nicht die ansonsten so basisdemokratischen Grünen, wirklich daran interessiert sind, über den desaströsen Verfassungsentwurf das Volk abstimmen zu lassen.
Ginge es der rotgrünen Bundesregierung wirklich um die Sache, so könnte sie ja die Aussagen einiger christdemokratischer Politiker kurzerhand aufgreifen und durch Grundgesetzänderung zunächst einmal die Abstimmung über die Verfassung ermöglichen. Das Motto dafür könnte lauten: Wir wollen zwar mehr, doch nehmen wir erst einmal die Ausnahmeregelung hin, um damit das Tor für weitere, größere Schritte bei der zukünftigen Verankerung plebiszitärer Elemente zu öffnen. Würde die Bundesregierung so vorgehen, so ließe sich schnell beweisen, ob die christdemokratischen Angebote wirklich ernst gemeint sind. Doch durch das sture Beharren auf der eigenen Position vergibt man lieber eine weitere historische Chance für die Demokratie. Nachdem bereits das Grundgesetz der alten Bundesrepublik nicht vom Volk angenommen werden durfte und auch der Vereinigungsvertrag nicht zur Abstimmung kam, wird nun auch die jeden Einzelnen unmittelbar betreffende Europäische Verfassung nicht dem Votum des Volkes ausgesetzt.
Anders als in Frankreich, Großbritannien, Irland, Dänemark, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg, Portugal, Spanien und in der Tschechischen Republik wird man daher in Deutschland wohl nie erfahren, ob die Bevölkerung wirklich hinter diesem Entwurf steht. So bleibt am Ende nur, dass der angekündigte Gesetzentwurf der SPD zu einer Verzögerung beim ursprünglich geplanten Durchwinken der Verfassung durch Bundesrat und Bundestag führen wird.
Die Gegner der Verfassung sollten diese Zeit nutzen, um die Bürgerinnen und Bürger über den unsozialen und wenig demokratischen Inhalt des Entwurfs aufzuklären und gegen ihn zu mobilisieren. Erst wenn die Unzufriedenheit weiter anwächst, besteht die Chance, dass die peinlichen Schaukämpfe zwischen SPD und CDU/CSU beendet werden und eine ernsthafte Debatte über die dringend notwendige Volksabstimmung über den Entwurf für eine Europäische Verfassung beginnt.

aus: Neues Deutschland vom 03.09.04