Tobias Pflüger: „London“ statt „Lissabon“, erscheinen in Schwäbisches Tagblatt, am 17.09.2004

Auch in Zeiten von Hartz IV bietet die „Bundesagentur für Arbeit“ noch übertariflich bezahlte Jobs an, obendrein Zulagen und gratis eine Lebensversicherung. Allerdings ist der Arbeitsplatz im Irak, der Flughafen Mosul im Nordirak. Nach Schätzungen sind derzeit rund 20 000 Mitarbeiter bei privaten Sicherheitsfirmen im Irak beschäftigt, darunter viele deutsche. Sie haben eine militärische Aufgabe: bewaffnete Patrouillendienste, Objektüberwachung, Personenkontrollen. Diese Art der indirekten Kriegsbeteiligung Deutschlands durch Förderung von solchen Jobs durch die Bundesagentur für Arbeit hatte ich – auf einen Tipp aus Tübingen – hin öffentlich kritisiert, es wurde breit in den Medien darüber berichtet. Jetzt hat das Bundeswirtschaftsministerium reagiert und die Bundesagentur für Arbeit aufgefordert, die Anzeige zurückzuziehen. Das ist nun geschehen. Ein kleiner Erfolg, diese Anzeige war doch zu zynisch in Zeiten von Hartz!

Am 8. September berichtete ich in der linken Europa-Fraktion über die Proteste gegen Hartz IV und die deutschen Montagsdemonstrationen. Die linke Europafraktion erklärte ihre Solidarität mit den Protesten in Deutschland. Mein spanischer Kollege meinte – und das stimmt: „Was in Deutschland passiert ist absolut zentral für die ganze Europäische Union“. Insofern sind die Proteste hierzulande eine Ermutigung für soziale Bewegungen in ganz Europa.

Doch auch umgekehrt stimmt der Satz: Die deutsche Regierung ist Vorreiter beim Sozialabbau in der EU: Das Hartz IV-Gesetz ist eine der deutschen Umsetzungen der so genannten „Lissabon-Strategie“ der Europäischen Union. Die Lissabon-Strategie hat die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union durch „Deregulierung“ und „Flexibilisierung der Arbeitsmärkte“ bis zum Jahr 2010 zum Ziel. Die Bundesregierung hat diese Strategie selbst mit auf den Weg gebracht, um jetzt unter Berufung auf sie, Sozialabbau zu betreiben. Sie Hartz IV drückt die Erwerbslosen auf Sozialhilfeniveau, verschärft soziale Ausgrenzung, begünstigt Lohnsenkungen und Arbeitszeitverlängerungen, schafft aber keine neue existenzsichernde Arbeitsplätze. Auch für Beschäftigte bedeutet Hartz IV Sozialabbau in Form von weniger Lohn und noch längeren Arbeitszeiten.

Während für ein soziales Europa angeblich kein Geld da ist, explodieren die deutschen und europäischen Rüstungsausgaben: 24 Mrd. € für den Eurofighter, 8,3 Mrd. für den Militär-Airbus, 6,6 Mrd. € für das IT-Projekt Herkules, um nur die drei größten zu nennen, sprechen eine deutliche Sprache.

Doch es gibt auch Widerstand gegen diese Entwicklung. Vom 14. bis 17. Oktober findet in London das dritte Europäische Sozialforum (ESF) statt. Das ESF bietet sozialen Bewegungen, gewerkschaftlichen Organisationen und Flüchtlingsgruppen aus ganz Europa ein Forum für Diskussion über Protest, Widerstand und politische Alternativen. Während sich die europäischen Regierungen, allen voran Frankreich und Deutschland, in Lissabon auf einen neoliberalen Pakt in Richtung Sozialabbau geeinigt gaben, geht es in London um eine gerechtere Verteilung des europäischen Reichtums.