Ein Erfolg, der sich als trügerisch erweisen könnte
Dr. André Brie, MdEP (PDS), Afghanistan-Berichterstatter des Europäischen Parlaments *
Afghanistan hat eine neue Verfassung. Dass diese dem Land am Hindukusch Frieden, Demokratie und Stabilität bringen wird, ist jedoch mehr als fraglich. Dafür gibt es verschiedene Gründe. So blieb für eine öffentliche Diskussion des Verfassungsentwurfs keine Zeit. Im physisch und kulturell zerstörten Afghanistan hätte eine solche Debatte Monate erfordert. Aber sie wäre eine Chance gewesen, das zerrissene Land zusammen zu führen. Zudem ist die Konstitution im wesentlichen auf die Bedürfnisse des Staatschefs Hamid Karzai zugeschnitten; der Text sieht ein zugespitztes, reines Präsidialsystem vor, auf die Einsetzung eines Ministerpräsidenten wurde verzichtet. Der Präsident bestimmt beispielsweise seinen Vize, einen beträchtlichen Teil der Mitglieder der Legislative und der Loja Dschirga, die Militärführung und sämtliche Richter. Ein anderer Präsident als Karzai könnte – unter den Bedingungen Afghanistans – aus einer solchen Verfassung sogar die Rechtsgrundlage einer Diktatur machen. Ohnehin ist die Wahl eines Parlaments um ein Jahr verschoben und derzeit wenig wahrscheinlich. Eine Reihe von Artikeln birgt zudem die Gefahr der Einschränkung ziviler Grundrechte und persönlicher Freiheiten. Trotz einzelner Verbesserungen gegenüber den Vorschlägen ist die neue Verfassung Afghanistans stark vom Bezug auf den Islam geprägt. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass im Vorfeld der Loja Dschirga versucht wurde, Frauen mit Morddrohungen von der Teilnahme an der Großen Ratsversammlung (Loja Dschirga) abzuhalten und gerade in der Frage der gleichberechtigten Teilnahme von Frauen am gesellschaftlichen Leben schwere Konflikte in den Beratungen entbrannten. Die Verfassung erwähnt Frauen nicht explizit, allerdings verbietet sie “jede Art von Diskriminierung”. Trotzdem sind solche grundlegenden Rechte wie der Zugang zu Bildung auch mit dem neuen Grundgesetz für Frauen nicht gesichert. Ohnehin gibt es gerade außerhalb Kabuls keinen Anlass, Verfassungsanspruch und Verfassungsrealität gleichzusetzen.
Die Demokratisierung Afghanistans lässt sich nicht allein mit einer neuen Verfassung erreichen. Die für das Frühjahr geplante weitere Afghanistan-Konferenz auf dem Bonner Petersberg muss dieses Thema konkreter angehen als “Bonn I”. Um nicht weniger als eine “dauerhafte Stabilisierung des Krisenherdes” geht es dabei nach Ansicht des afghanischen Wiederaufbauministers Amin Farhang. Letztlich ist dies eine Bestätigung dafür, dass entscheidende Ziele der Petersberger Vereinbarung von 2001 zumindest im beschlossenen Zeitrahmen nicht mehr erreichbar sind. “Bonn II” könnte aber durchaus auch eine Chance sein, die verschiedenen Sackgassen zu verlassen oder die vor zwei Jahren gar nicht angepackten Fragen (vor allem die Abrüstung der privaten und regionalen Milizen) zu lösen.
Das ist um so wichtiger, als auch nach der Tagung der “Großen Ratsversammlung” die Situation in Afghanistan gefährlich instabil bleibt. Kaum ein Tag vergeht ohne Überfälle auf Angehörige der internationalen Stabilisierungstruppe ISAF und deren hektische Reaktionen darauf, die häufig unbeteiligte Zivilisten das Leben kosten. Die Zahl der Übergriffe auf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der verbliebenen Hilfsorganisationen wächst dramatisch. Die Taliban haben sich nach ihrer militärischen Niederlage völlig neu reorganisiert, bauen wieder bewaffnete Milizen auf und haben Kampfformen entwickelt, mit denen sie der militärischen Überlegenheit der USA regional wirksam begegnen können. Nach UN-Angaben kontrollieren die Taliban bereits wieder einige Gebiete an der Grenze zu Pakistan. Provinzgouverneure und Warlords festigen ihre regionale Macht und liefern sich Kämpfe um Einflussgebiete und finanzielle Pfründe. Vor allem um die Kontrolle von Zolleinahmen, Drogenproduktion und -handel geht es dabei. Selbst die US-Regierung musste inzwischen einräumen, dass sich der Anbau von Schlafmohn zur Opiumproduktion in Afghanistan im laufenden Jahr fast verdoppelt hat – und dies unter den Augen der amerikanisch geführten ISAF. 2003 ist auf einer Gesamtfläche von rund 61.000 Hektar Mohn angebaut worden, im Jahr zuvor waren es 31.000 Hektar. Als besonders bedrohlich wird die Ausdehnung der Drogenstrukturen in weitere Provinzen angesehen. Internationale Beobachter halten inzwischen die Entstehung eines „mafiösen Drogenstaates“ für eine reale und gar nicht mehr unwahrscheinliche Gefahr.
Verbunden ist diese Situation mit dem weitgehenden Fehlen von staatlichen Strukturen, von demokratischen Mechanismen, von handlungsfähigen nationalen Sicherheitskräften, die auch mit der Verfassung nicht über Nacht entstehen können. Der Einfluss von Präsident Karzai bleibt, trotz der Ausweitung seiner Kompetenzen, auf die Hauptstadt Kabul beschränkt. Selbst dies ist noch positiv beschrieben. Denn Karzai hat zwar die USA hinter, aber seinen Verteidigungsminister Fahim gegen sich. Es ist angesichts dieser Tatsachen nur allzu verständlich, dass der zumindest halbwegs demokratisch bestellte Präsident einen offenen Konflikt oder gar die direkte Konfrontation mit den eigentlichen Machthabern im Land, den Warlords und Provinzgouverneuren, scheut. Nicht zuletzt deshalb, weil diese über schlagkräftige Privatarmeen verfügen und nicht zu einer wirklichen Abrüstung bereit sind. Die Abgabe einiger Panzer, Geschütze und Kleinwaffen durch Milizen Ende vergangenen Jahres hatte eher symbolischen Charakter. In den Arsenalen der paramilitärischen Einheiten lagern nach wie vor unangetastet Unmengen schwerer Waffen fast jeder Art. Wenn nicht Abrüstung der Milizen, die Demobilisierung und soziale Reintegration ihrer Mitglieder und die Bekämpfung der Rauschgiftproduktion komplex angegangen werden, droht eine neue oder weitere Destabilisierung Afghanistans.
Wesentliche Mitschuld an der gegenwärtigen Lage in Afghanistan trägt die internationale Gemeinschaft. Diese, insbesondere Washington, toleriert oder unterstützt sogar die regionalen Militärführer, vor allem jene der „Nordallianz“. Die für fünf Jahre bereitgestellte Finanzhilfe in Höhe von etwa 4,5 Milliarden Dollar reicht für den Wiederaufbau des zerstörten Landes nicht annähernd aus. Der Finanzbedarf wird nicht nur von der afghanischen Regierung, sondern auch von der UNO auf mindestens 30 Milliarden Dollar geschätzt. Dessen ungeachtet hat auch der Rat der Europäischen Union – gegen den Willen des Europaparlaments übrigens – die geplante Afghanistan-Hilfe im laufenden Jahr von 184 auf 175 Millionen Euro gesenkt und für die Zukunft weitere Kürzungen angekündigt. Dass mit dieser Verweigerungshaltung selbst die planmäßige Durchführung der Wahlen in Afghanistan an der Finanzierung scheitern könnte, ist ein Armutszeugnis für die Weltgemeinschaft.
Abrüstung der Privatarmeen, reale Stärkung der zentralen Institutionen, an den tatsächlichen Bedürfnissen orientierte internationale Hilfe – das sind die notwendigen Schritte, um Afghanistan zu stabilisieren und den Wiederaufbau zu forcieren. Parallel dazu muss die Zivilgesellschaft politisch, moralisch und auch finanziell unterstützt werden. Eine demokratische Öffentlichkeit – vom „Westen“ weitgehend ignoriert – existiert in ernsthaften Ansätzen und wird stärker. Ihr gehört die Zukunft.
* Der Autor besuchte in den vergangenen Monaten mehrfach Afghanistan und führte u. a. Gespräche mit Vertretern der Regierung, der UN, der ISAF und von Hilfsorganisationen.