Gedrosseltes Engagement

Afghanistan, die Verfassung und der Westen

Die Einschätzungen nach der Annahme der afghanischen Verfassung waren überschwenglich. Von „ermutigendem Erfolg“ (Bundesaußenminister Fischer) bis zu „Grundlage für demokratische Institutionen“ (US-Präsident Bush) reichten die Bewertungen. Abgesehen davon, dass die Konstitution kaum demokratisch legitimiert ist – eine öffentliche Debatte fand nicht statt – war ihre Verabschiedung längst überfällig. Dies weist auf die Schwierigkeiten bei der Umsetzung des vor zwei Jahren in Bonn beschlossenen Demokratisierungsfahrplans hin. Abgesehen davon, dass der Entwurf nur unter Druck von außen – die Vertreter der UNO und USA hatten persönlich interveniert – zum Gesetz wurde, bleibt er doch weitgehend eine – zudem extrem zugespitzte – Kopie des US-amerikanischen Präsidialsystems. Die Wahl eines Parlaments als Korrektiv zum Präsidenten wird wohl verschoben. Abgesehen davon, dass allein schon bei der Bestätigung der Verfassung elementare Grundregeln verletzt wurden – eine Abstimmung fand praktisch nicht statt – hat das neue Grundgesetz aber vor allem ein großes Manko: Die Realitäten in Afghanistan sind ganz andere.

Die Demokratisierung Afghanistans findet vorerst nur auf dem Papier statt. Was nützt die neue Verfassung, wenn ihr Geltungsbereich faktisch auf die Hauptstadt Kabul beschränkt bleibt? In den Provinzen haben nach wie vor Warlords und Gouverneure, ausgestattet mit westlicher Finanzhilfe und dem Geld aus dem Heroinhandel, das Sagen. Was bringt das das juristische Diskriminierungsverbot, wenn in der Realität Mädchen nach wie vor der Zugang zu Bildung verwehrt wird und Frauen zehntausendfach Gefangene ihrer Mäner sind? Wie relevant ist das allgemeine Wahlrecht, wenn Männer ihre Frauen hindern können, sich in die Stimmlisten einzutragen?

Vielleicht sind die Lobeshymnen westlicher Politiker auf die afghanische Verfassung aber ja vor allem dazu bestimmt, ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Denn Afghanistan ist nicht nur aus dem Blickwinkel der internationalen Öffentlichkeit gerückt. Teilweise klammheimlich und teilweise offen wurde das Engagement in dem Land am Hindukusch reduziert. So wurden für den Wiederaufbau des zerstörten Landes nur 4,5 Milliarden Dollar für fünf Jahre bereit gestellt – die tatsächlichen Kosten werden jedoch auf mindestens 30 Milliarden Dollar geschätzt. Trotzdem hat auch der Rat der Europäischen Union die geplante Afghanistan-Hilfe 2003 von 184 auf 175 Millionen Euro gesenkt und weitere Kürzungen angekündigt. Mit dem gedrosselten Finanzfluss ist nicht zuletzt die planmäßige Durchführung der Wahlen gefährdet.

Natürlich darf es nicht darum gehen, Afghanistan westliche Demokratiemodelle überzustülpen. Solche Vorhaben haben wiederholt Konflikte verschärft statt entspannt. Es geht um effiziente und zielgerichtete internationale Hilfe, um reale Abrüstung der Privatarmeen und Milizen, um die Festigung nationalstaatlicher Strukturen bei Berücksichtigung kultureller und religiöser Traditionen und die Schaffung handlungsfähiger Sicherheitskräfte, um den Ausbau zivilgesellschaftlichen Strukturen und deren Unterstützung auch von außen. Sonst würde die Warnung von UN-Generalsekretär Kofi Annan bittere Realität: „Wir könnten Afghanistan verlieren.“

André Brie, PDS-Europaabgeordneter und Afghanistan-Berichterstatter des Europäischen Parlaments