Darf die Türkei der EU beitreten? Ja – aber nicht ohne Wenn und Aber; Debattenbeitrag von Feleknas Uca, erschienen in der Tageszeitung „Neues Deutschland“ am 27.02.2004
Darf ein Land mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung der EU beitreten? An dieser Frage entzündet sich die aktuelle Diskussion um einen Beitritt der Türkei. Während Gerhard Schröder sich für einen Beitritt stark macht, auch um bei türkischen Migrantinnen und Migranten nach Wählerstimmen zu fischen, versucht die CDU/CSU im ausländerfeindlichen Milieu auf Stimmenfang zu gehen, indem sie vermeintlich unüberwindliche kulturelle Hindernisse auftürmt. Die Positionen von Angela Merkel und Edmund Stoiber sind dabei zwei Seiten einer Medaille; Merkels Angebot einer privilegierten Partnerschaft ist dabei nur die diplomatischere Version der Einstellung, dass Türken nichts in der EU verloren haben.
Soweit die Debatte in Deutschland. Doch wie verhält es sich wirklich? Auf welcher Grundlage wird die EU Ende des Jahres entscheiden, ob sie Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufnimmt?
1993 wurde in Kopenhagen vom Europäischen Rat festgelegt, dass für einen EU-Beitritt die Erfüllung folgender Kriterien zwingend sei: institutionelle Stabilität als Garantie für eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung und für die Wahrung der Menschen- und Minderheitenrechte, eine funktionstüchtige Marktwirtschaft und die Übernahme des gemeinsamen Besitzstandes, d.h. die Ziele der politischen und wirtschaftlichen Union müssen geteilt werden. Von Religionszugehörigkeit ist in den Kriterien nicht die Rede. Für die Entscheidung über einen EU-Beitritt ist die in Deutschland so heiß diskutierte Frage also vollständig irrelevant.
Es ist unstrittig, dass die Türkei in den letzten Jahren beträchtliche Bemühungen unternommen hat, die notwendigen Reformen für einen EU-Beitritt einzuleiten. So gibt es kein Verbot der kurdischen Sprache mehr, die Rolle der Armee wurde eingeschränkt, das Recht auf freie Meinungsäußerung gestärkt, das Prinzip von Null-Toleranz gegenüber Folter eingeführt usw. Allerdings, und dies ist das Problem, blieben die Änderungen weitgehend formaler Natur. In der Praxis hat sich weit weniger geändert als die Reformschritte erahnen lassen.
Beispiel Minderheitenrechte: Die kurdische Bevölkerung ist weiterhin Schikanen ausgesetzt. Die Anwendung der kurdischen Sprache wird behindert, Demonstrationen werden verboten, Übergriffe sind weiterhin an der Tagesordnung. Pro-kurdische Parteien wie HADEP und DEHAP sind entweder bereits verboten oder von einem Verbot bedroht.
Beispiel Folter: Formal ist sie abgeschafft, Misshandlungen auf Polizeistationen sind jedoch weiterhin gängig, und Folterer genießen weitgehend Straffreiheit.
Beispiel Leyla Zana: Die ehemalige kurdische Abgeordnete sitzt seit zehn Jahren menschenrechtswidrig in Haft. Im vergangenen Jahr wurde als Resultat der Rechtsreformen eine Neuverhandlung ihres Prozesses anberaumt – diese gleicht jedoch einer Farce.
Die Reihe der Beispiele ließe sich fortsetzen. Man denke an die nicht vollständig abgeschaffte Todesstrafe, an die ausstehende Anerkennung des Völkermords an den Armeniern, an Religionsfreiheit, an die politischen Gesinnungshäftlinge, an unzureichende Frauenrechte und insbesondere auch an Zypern. Eine Regelung dieses Konflikts ist bisher maßgeblich an der mangelnden Bereitschaft der türkischen Regierung gescheitert, ihren Einfluss in Nordzypern geltend zu machen und sich konstruktiv bei den Verhandlungen zu verhalten. Sollte es nun doch noch zu einer Regelung kommen, ist dies Resultat des Drucks, der von der EU ausgeübt wird.
Und genau dies ist der Hebel für Veränderung: Die EU muss klar machen, dass die Türkei eine realistische Beitrittsperspektive hat. Sie muss aber gleichermaßen unterstreichen, dass formale Reformen nicht genügen, sondern konkrete Umsetzungen erforderlich sind. Die Türkei muss zeigen, dass sie die von der EU als grundlegend definierten Werte und Rechte als ihre eigene bindende Grundlage anerkennt. Erst wenn sich die Realität in der Türkei den Kopenhagener Kriterien annähert, können Beitrittsverhandlungen beginnen. Dass diese auf Grund der vielen zu klärenden Fragen lange dauern würden, ist unstrittig.
Die Türkei hat 1987 den Antrag auf Mitgliedschaft in der EU gestellt. Seitdem hat sie sich stark verändert. Was damals utopisch wirkte, ist heute durchaus realistisch. Mag sein, dass es bis zum endgültigen Ja der EU länger dauert als bis zum Jahr 2004. Aber: Die Türkei kann Mitglied der EU werden. Entscheidend dafür ist, wie bei jedem anderen Beitrittskandidaten, die Umsetzung der Kopenhagener Kriterien – und nicht die Frage der Religionszugehörigkeit.
Feleknas Uca ist Abgeordnete der PDS im Europäischen Parlament und Delegationsmitglied im Gemischten Parlamentarischen Ausschuss EU-Türkei.
(ND 27.02.04)
Quelle:
Neues Deutschland, 27.02.04