Interview mit Tobias Pflüger in Stattzeitung für Südbaden – Ausgabe 59: „Ein Referendum könnte die Menschen aufrütteln“
SZ- Interview mit Tobias Pflüger (MdEP) über die Chancen einer Volksabstimmung über die geplante EU-Verfassung.
Am 29.Oktober wurde der Entwurf des Europäischen Konvents für eine neue „Verfassung für Europa“ in Rom von den 25 Staats- und Regierungschef der EU unterzeichnet. Das dickleibige Regelwerk soll den Rahmen für das Zusammenleben von 455 Millionen Menschen in den 25 Mitgliedsländern abstecken und tritt in Kraft, sobald es von allen nationalen Parlamenten ratifiziert worden ist. Das kann noch mehrere Jahre dauern, denn in elf EU-Staaten sollen Volksabstimmungen dazu stattfinden (vgl. dazu auch Hintergrundartikel in Stattzeitung 58). In Deutschland wird Volkes Meinung zum EU-Verfassungsentwurf jedoch nicht gefragt. Dies bestätigte SPD-Chef Franz Müntefering Anfang November. Aufgrund des engen deutschen Zeitplans zur Ratifizierung der EU-Verfassung hätte man sich parteigreifend bis Jahresende über die Einführung von Referenden auf Bundesebene einig werden müssen. Da dies nicht gelungen sei, werde man den rot-grünen Entwurf zur Bürgerbeteiligung erst nach Ratifizierung der EU-Verfassung durch Bundesrat und Bundestag ins Parlament einbringen, kündigte Müntefering an.
Zu den Kritikern der geplanten EUVerfassung gehört Tobias Pflüger von der „Informationsstelle Militarisierung“(IMI) in Tübingen, seit Juni als parteiloser Abgeordneter für die PDS Mitglied des EUParlaments. Im September stellte er in Freiburg seine Einschätzung zur Diskussion. Zu den Chancen, das Regelwerk per Referendum zu stoppen, führte die Stattzeitung ein Interview mit ihm.
Stattzeitung: Wie will man politischen Druck gegen die geplante EU-Verfassung aufbauen, wenn das Interesse nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch innerhalb
der Linken an diesem abstrakten Thema äußerst gering ist? Viele Linke beschäftigt derzeit viel mehr Hartz IV als dieses Paragraphenmonster aus Brüssel.
Pflüger: Im ersten Schritt geht es um Aufklärung: Wir müssen darüber informieren, was in diesen 856 Seiten eigentlich drin steht. Es handelt sich um einen antisozialen, neoliberalen, friedensgefährdenden und demokratieabbauenden Vertrag, der nicht ratifiziert werden darf. Meine Erfahrung ist, dass viele in den Grundsätzen über den Vertragsentwurf Bescheid wissen. Man muss auch gar nicht alle Artikel kennen, sondern nur die zentralen Paragraphen. Etwa, Artikel I-3, in dem ein „Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb“ zum Ziel der EU erklärt wird. Damit erhalten die Prinzipien des Neoliberalismus Verfassungsrang. Oder Artikel I-41, Absatz 3, der eine Aufrüstungsverpflichtung enthält, III-309, der Kampfeinsätze festschreibt, einschließlich so genannter „Abrüstungskriege“ (wie im Irak). Ich glaube, dass noch ein großes politisches Potential gegen diesen Verfassungsvertrag mobilisierbar ist, etwa bei Teilen der Gewerkschaften, Kirchen und vor allem in den verschiedenen sozialen Bewegungen. Mit der Opposition gegen den EU-Verfassungsentwurf bekommt man auch verschiedene politische Ansätze zusammen- darin sehe ich eine große Chance.
SZ: Das oppositionelle Potential gegen die EU-Verfassung mag vorhanden sein, doch in der Praxis ist das Thema in den verschiedenen linken Bewegungen kaum präsent.
Pflüger: Bei den Demonstrationen gegen Sozialabbau vom 3.April gab es eine ganze Reihe von Gruppierungen, die diesen Themenbereich mit aufgenommen haben, weil ja der Zusammenhang zwischen Aufrüstung und Sozialabbau offensichtlich ist. Wenn wir das vermittelt bekommen, ist ein Potential da, da bin ich zuversichtlich. Gleichzeitig ist es ein komplexes Thema, das darf man nicht wegwischen. Es ist natürlich viel schwieriger, Massen gegen die EUVerfassung auf die Straße zu bringen als etwa gegen Hartz IV. Doch selbst auf den Magdeburger Montagsdemos habe ich Schilder gegen diesen EU-Verfassungsvertrag gesehen, das Thema ist also präsent. Es ist im Kommen, da bin ich sicher. Es genügt im übrigen nicht, nur ein einzelnes Phänomen wie Hartz IV zu kritisieren: man muss es in den Kontext von Lissabon-Strategie, EU-Verfassungsentwurf, neoliberaler Politik und Sozialabbau in verschiedenen EU-Staaten stellen. Auch EU-weit findet das Thema eine wachsende Resonanz. Vor kurzem diskutierte die linke Fraktion (GUE/NGL) im Europäischen Parlament das Thema. Es ist interessant, wie sich in allen EU-Staaten Bewegungen gegen den vorgelegten EU-Verfassungsvertrag formieren. Die Fraktion ist im übrigen einhellig gegen den Verfassungsvertrag.
SZ: Ziel der Anti-EU-Verfassungskampagne ist ein Referendum. Voraussetzung eines solchen bundesweiten Volksentscheids wäre eine Verfassungsänderung, die mit Zwei-Drittel-Mehrheit von Bundestag und Bundesrat beschlossen werden müsste, noch ehe das Regelwerk in die Parlamente kommt. Der rotgrüne Zeitplan sieht jedoch eine andere Reihenfolge vor: Erst die Ratifizierung der EU-Verfassung, erst danach die Einführung eines Referendums auf Bundesebene….
Pflüger: Der rotgrüne Gesetzentwurf hat nur den Sinn, den schwarzen Peter an CDU und CSU zu geben. Ein Referendum (ich sage bewusst nicht „Volks“entscheid) wird im EU-Verfassungsvertrag nicht kommen. Ich bin für das Referendum, weil ich eine breite Debatte über diesen Verfassungsentwurf möchte. Ich möchte die Grundstimmung in der Gesellschaft verändern. Ziel der Kampagne ist die Information über den Verfassungsvertrag und vor allem eine Verhinderung des EUVerfassungsvertrags, das Referendum ist nicht Ziel, sondern Mittel. Es ist ja ein Phänomen, dass sowohl die Regierungsparteien SPD und Grüne wie auch das konservativ-liberale Schattenkabinett nicht über das Thema reden wollen. Ein Referendum könnte die Menschen aufrütteln. Es gibt inzwischen eine Reihe von Organisationen, die den Verfassungs-Entwurf klar ablehnen, wie die Friedensbewegung, attac und auch die PDS. Ihre Zahl wächst. Meine Erfahrung ist die, dass die Befürworter der EU-Verfassung häufig der Diskussion ausweichen, weil ihnen die Argumente fehlen. So auch kürzlich der zuständige Minister für Europafragen im Auswärtigen Amt in einer – auf seinen Wunsch – nichtöffentlichen Diskussionsveranstaltung mit mir.
SZ: Die Frage eines möglichen Beitritts der Türkei zur EU scheint mehr Gemüter zu bewegen als die EU-Verfassung. Lassen sich beide Themen bezüglich eines
bundesweiten Volksentscheids verfassungsrechtlich zusammen bringen?
Pflüger: In Sachen Türkei haben wir es mit zwei Heuchler-Fraktionen zu tun: Die Konservativen, die jetzt die Menschenrechte entdecken, diese aber nur instrumentell benutzen. Die eigentlichen Ablehnungsgründe vieler Konservativer sind im Kern rassistisch und antiislamisch. Dagegen steht rot-grün, das jetzt die Situation in der Türkei trotz Folter, Zensur, Dominanz des Militärs, politischer gefangener (selbst nach Amnesty International-Kriterien), Umgang mit KDVer, Besatzung in Zypern u.a. schönreden, weil sie die Türkei aus geopolitischen Gründen in der EU haben wollen mit dem Ziel die EU-Weltmachtambitionen substanziell zu stärken. Ein Referendum in dieser Gemengenlage würde den Rassismus aus den Löchern ziehen…
SZ: Nehmen wir an, es kommt trotzdem zu einem Volksentscheid über die EUVerfassung in Deutschland. Wie hoch sind die Chancen der Gegner, eine Mehrheit zu erzielen?
Pflüger: Das ist eine hypothetische Frage, weil das Referendum meiner Ansicht nach nicht kommen wird. Sollte es doch kommen, würde bundesweit eine inhaltliche Debatte stattfinden, denn das wäre dann auch eine politische Bildungsveranstaltung. Natürlich würde die Regierung es durchpauken, egal, wie die Abstimmung ausginge. Aber sie hätten ein größeres Problem als jetzt, weil noch mehr Menschen informiert wären über den Inhalt des Entwurfs.
SZ: Obwohl du überzeugt bist, dass es zu dieser Frage kein Referendum in Deutschland geben wird, forderst du es weiterhin?
Pflüger: Sachen, die richtig sind, muss man fordern. Ich bin ja auch für die Abschaffung der Bundeswehr, obwohl ich weiß, dass sie nicht abgeschafft wird.
SZ: Die Militarisierung, der neoliberale Umbau und die rassistische Abschottung der EU werden von den Staatschefs vorangetrieben, ganz unabhängig von einer
EU-Verfassung. Ist es da nicht sinnvoller, politisch diese Entwicklungen zu bekämpfen, als sich in Gefechten um das Paragraphenmonster aus Brüssel zu verstricken?
Pflüger: Meine Einschätzung ist genau umgekehrt: Die Debatte um den EUVerfassungsentwurf ist das Instrument, um das dahinter stehende Projekt eines neoliberalen, imperialen Europas nach deutsch-französisch-britischem Vorbild deutlich zu machen und zu kritisieren. Das Problem ist ja, wenn ich die Aufrüstungspolitik in der EU kritisiere, muss ich selbst den Zusammenhang zwischen Sozialabbau und neoliberaler Politik herstellen. Beim EU-Verfassungsentwurf ist alles institutionell festgeschrieben. Das ist einfach ideal, um die grundsätzlichen Fragen aufzuwerfen. Rein strategisch ist der Verfassungsentwurf ein Geschenk: Man hat tatsächlich alle Themen, die zentral sind, unter einem Hut – bis hin zur Flüchtlingspolitik.
Fragen: Martin Höxtermann
Weitere Infos zum EU-Verfassungsentwurf: www.eu-verfassungsvetrag.com
Rudi Friedrich, Tobias Pflüger [Hrsg.]: In welcher Verfassung ist Europa? Europäische Union und Flüchtlingsabwehr. Trotzdem Verlagsgenossenschaft, April 2004,
128 S., Euro: 9,00. Internet: www.imi-online.de