Der EU-Konvent und die institutionellen Machtverschiebungen
Die Verabschiedung des vom Europäischen Konvent ausgearbeiteten Verfassungsvertrages für die Europäische Union ist auf der Brüsseler Ratstagung am Dezember 2003 im ersten Anlauf gescheitert. Anlass war der Streit über die Stimmenzahl von Polen und Spanien bei den Abstimmungen im Europäischen Rat und im Ministerrat. Aufgegeben ist das Projekt damit aber noch lange nicht. Gegenwärtig wird sondiert, ob eine Chance besteht, den Verfassungsvertrag noch vor dem offiziellen Datum der Erweiterung der Union am 1. Mai 2004 im Europäischen Rat anzunehmen.
Eine der wichtigsten Aufgaben des Konvents war es, Vorschläge für den institutionellen Aufbau der Europäischen Union vorzulegen, mit denen die sogenannten „Left-overs“, jene seit dem Vertrag von Amsterdam ungelöst gebliebenen Fragen, geregelt werden sollten. Bei ihnen geht es bekanntlich um die zukünftige Größe der Kommission, das Abstimmungsverfahren im Ministerrat und um die Ausweitung der Entscheidungen dort mit qualifizierten Mehrheiten.
Eine verkleinerte Kommission
Im Anschluss an den Beitritt der zehn neuen Staaten wird bei der für November 2004 anstehenden Neuwahl der Kommission die Zahl ihrer Mitglieder auf 25 ansteigen, da nach dem Vertrag von Nizza „der Kommission ein Staatsangehöriger jedes Mitgliedslandes angehört.“ Nach verbreiteter Ansicht behindert eine solch große Zahl von Kommissaren die Arbeitsfähigkeit dieses Gremiums. Einige Staats- und Regierungschefs hatten deshalb im Dezember 2000 auf der Tagung des Europäischen Rats in Nizza versucht, eine Regelung durchzusetzen, nach der die Kommission im Anschluss an die EU-Erweiterung wieder verkleinert werden kann. Dies stieß aber auf den entschiedenen Widerstand der mittleren und kleineren Mitgliedsländer und der in Nizza bereits mit am Tisch sitzenden Beitrittsstaaten. Sie sahen in dem national ausgewählten Kommissar eine unverzichtbare Möglichkeit ihrer Einflussnahme auf die Entscheidungsfindung der Kommission. So erreichten die auf ihre Verkleinerung drängenden Länder, unter ihnen in erster Linie Frankreich und Deutschland, lediglich die Verabschiedung einer sogenannten „Rendezvous-Klausel“, was heißt, dass man sich allein darauf verständigen konnte, die Frage später erneut aufzugreifen.
Da aber ungewiss ist, ob sich der Rat künftig wirklich auf eine substanzielle Reduzierung der Zahl der Kommissionsmitglieder und damit auf die Straffung ihrer Arbeit wird einigen können, war es das Ziel des Konvents, dieses Problem jetzt zu lösen. Nach Art. I-25 Abs. 3 des Konventsentwurfs wird die Zahl der Kommissare auf insgesamt 15 begrenzt: „Die Kommission besteht aus einem Kollegium, das sich aus ihrem Präsidenten, dem Außenminister der Union, der Vizepräsident ist, und aus dreizehn Europäischen Kommissaren, die nach einem System der gleichberechtigten Rotation zwischen den Mitgliedstaaten ausgewählt werden, zusammensetzt.“ Um den Staaten, die noch in Nizza hartnäckig an „ihrem Kommissar“ festhielten, diese Reduzierung schmackhaft zu machen, wurde die Funktion des „Kommissars ohne Stimmrecht“ geschaffen, der wenigstens für die gleichzeitige Präsenz aller Mitgliedstaaten am Kommissionstisch sorgen soll.
Kaum beachtet wurde bisher, dass nach dem Konventsentwurf die Stellung des Kommissionspräsidenten erheblich gestärkt wird. Ihm fällt zukünftig nach Art. I-26 Abs. 2 das Recht zu, die übrigen Kommissionsmitglieder zu benennen. Er wählt dazu aus einer Liste von drei Personen aus, die jeder Mitgliedstaat erstellt. Gegenwärtig ist es nach Art. 124 EG-Vertrag noch der Europäische Rat, der im Einvernehmen mit dem Kommissionspräsidenten über die auf Grundlage der Vorschläge der Mitgliedstaaten zusammengestellte Liste der Kommissare mit qualifizierter Mehrheit beschließt. Dabei sind die Vorschläge der EU-Länder in der Regel allein ausschlaggebend. Nach den Vorstellungen des Konvents erhält der Kommissionspräsident künftig auch die Möglichkeit, einzelne Kommissionsmitglieder entlassen zu können. Schließlich bekommt er nach Art. I-26 Abs. 3 eine Leitlinienkompetenz, „nach denen die Kommission ihre Arbeit ausführt“.
In einer verkleinerten Kommission, deren Mitglieder von ihrem Präsidenten ausgewählt werden, werden sich die Kommissare kaum noch als Vertreter ihres Entsendestaates verstehen. Mit einer deutlich gestärkten Rolle des Kommissionspräsidenten und schließlich mit dem neu geschaffenen Amt des Außenministers der Union, der zugleich Vizepräsident der Kommission ist, würde dieses Gremium schon sehr dem Bild einer klassischen Regierung ähneln. Vor diesem Hintergrund fällt um so schwerer ins Gewicht, dass der Kommissionspräsident auch zukünftig nicht frei vom Europäischen Parlament gewählt werden kann. Das dazu vom Konvent in Art. I-26 vorgesehene Verfahren in Absatz 1: „Unter Berücksichtigung der Wahlen zum Europäischen Parlament schlägt der Europäische Rat diesem im Anschluss an entsprechende Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor. Das Europäische Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder. Erhält dieser Kandidat nicht die Mehrheit, schlägt der Europäische Rat dem Europäischen Parlament innerhalb eines Monats einen neuen Kandidaten vor, wobei dasselbe Verfahren wie zuvor angewandt wird.“ Die entscheidende Vorauswahl bleibt demnach dem Europäischen Rat vorbehalten.
Die Stärkung des Europäischen Rats
Der Europäische Rat, das Gremium der Staats- und Regierungschefs, das nach Art. I-20 „der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse gibt und ihre allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten festlegt“, soll gestärkt und seine Arbeit gestrafft werden.
Die Schaffung des Amtes eines hauptamtlichen Ratspräsidenten war im Konvent lange Zeit umstritten gewesen. Dagegen sprachen sich die Staaten aus, die – wie Deutschland – eine schnellere Integration befürworten. Aber auch die kleineren und mittleren Länder waren dagegen. Von den „Integrationisten“ wurde befürchtet, dass mit der Einrichtung eines solchen Amtes unweigerlich eine Konkurrenz zum Kommissionspräsidenten entsteht. Und die kleineren und mittleren Länder sahen in ihm das Symbol eines Direktoriums der großen Mitgliedstaaten. Auch lehnten sie die damit verbundene Abschaffung der halbjährlichen Rotation der Ratspräsidentschaft ab, da dies den Verlust von Möglichkeiten zur Beeinflussung der Arbeit des Rates bedeutet. Um angesichts dieser Widerstände überhaupt eine Mehrheit für den Vorschlag zu erhalten, wurden die Rechte des Ratspräsidenten schließlich arg beschnitten, so soll er etwa über keine eigene Bürokratie verfügen, sondern sich der des Generalsekretariats des Rates bedienen müssen.
Der Ministerrat
Der im Verfassungsentwurf zur besseren Unterscheidungsmöglichkeit vom Europäischen Rat zukünftig „Ministerrat“ genannte Rat der Fachminister der einzelnen Mitgliedsländer behält seine gesetzgeberischen und seine allgemein politischen Aufgaben, zu letzteren gehören sowohl ausführende wie aufsichtsführende Funktionen. Er ist damit weiterhin gleichzeitig Gesetzgeber und ausführendes Organ in einem. Damit wird an der allen Prinzipien liberaler Gewaltenteilung hohnsprechenden Vermengung legislativer und exekutiver Funktionen festgehalten. Da nach dem Verfassungsentwurf weitere vom Ministerrat zu beaufsichtigende europäische Behörden geschaffen werden sollen, wie etwa das „Europäische Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten“, wird sich diese Situation sogar noch verschärfen.
Nach Art. I-49Abs. 2 soll der Ministerrat zukünftig öffentlich tagen, „wenn er über Gesetzgebungsvorschläge berät oder beschließt“. Damit will man dem Vorwurf mangelnder Transparenz begegnen. Gelegentlich war dem Rat sogar polemisch vorgeworfen worden, mit der von ihm praktizierten Art der Gesetzgebung hinter verschlossenen Türen auf einer Stufe mit den Parlamenten Chinas, Nordkoreas oder Kubas zu stehen. Es steht aber zu befürchten, dass diese Regelung von den Mitgliedstaaten wieder gestrichen wird. Bereits bei der Regierungskonferenz im Herbst 2003 bestand Einigkeit unter ihnen, dieses Zugeständnis an die kritische Öffentlichkeit wieder einzukassieren.
Der Streit über die Abstimmungsregelung im Ministerrat und Europäischen Rat
Der Beitritt von nicht weniger als zehn Staaten, denen mit Bulgarien und Rumänien und womöglich der Türkei bald weitere folgen werden, wird die Union grundlegend verändern. Ein Berater des Konventmitglieds Erwin Teufel beschrieb diese Herausforderung wie folgt: „Mit Blick auf die bevorstehende Erweiterung der EU von 15 auf 25 und mehr Mitgliedstaaten war in den neunziger Jahren klar geworden, dass die große gesamteuropäische Union des 21. Jahrhunderts einer neuen verfassungsmäßigen Ordnung bedarf, um handlungsfähig zu bleiben.“ Und unter Handlungsfähigkeit wird dabei immer auch die Wahrung des eigenen, deutschen Interesses verstanden.
Der Europäische Rat legte im Dezember 2000 in Nizza die Regeln für die Abstimmungen im Ministerrat und Rat neu fest. Der Einfluss der bevölkerungsstarken Staaten wurde dabei vergrößert. Frankreich beharrte jedoch darauf, mit 29 der so genannten „gewichteten“ Stimmen gleich viel wie Deutschland zu erhalten. Ebenfalls 29 bekamen Italien und Großbritannien. Polen und Spanien wurden jeweils 27 zugestanden. Nun wurde in jüngster Zeit immer wieder als Skandal herausgestellt, dass Polen und Spanien noch nicht einmal zusammen über so viel Einwohner wie Deutschland verfügen und dennoch jeweils nur zwei Stimmen weniger haben. Übersehen wurde dabei allerdings, dass ihr Abstand bei der Bevölkerungszahl zu Frankreich, Italien und Großbritannien geringer ist als die Differenz der jeweiligen Bevölkerungszahl dieser drei Länder zu Deutschland. Das Ungleichgewicht bei der Stimmenverteilung entstand also dadurch, dass in Nizza vier Ländern die gleiche Stimmenzahl von 29 gegeben wurde, obwohl Deutschland sehr viel größer als die übrigen drei ist.
In Nizza wurde aber auch erstmalig die Berücksichtigung des demografischen Faktors bei Abstimmungen beschlossen. Zukünftig kann ein Beschluss angefochten werden, wenn er nicht mindestens 62 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentiert. Die Bevölkerungsquote kann aber nur angewandt werden, um Beschlüsse zu verhindern, sie vermag nicht, bei Abstimmungen Stimmendefizite auszugleichen. In einer Analyse des Ergebnisses von Nizza heißt es zu den Konsequenzen der Einführung dieses demografischen Faktors: „Spielt man die verschiedenen Staatenkonstellationen durch, zeigt sich, dass die Bevölkerungsquote nur Deutschland als dem größten Mitgliedstaat zusätzliche Blockademöglichkeiten eröffnet. (…) Unter Berufung auf das Bevölkerungserfordernis erreicht Deutschland eine Sperrminorität schon dann, wenn es einen zweiten und einen der kleinen Staaten (außer Luxemburg) auf seiner Seite hat. Ähnlich verhält es sich auch nach Aufnahme der zwölf Kandidatenländer. Deutschland kann dann mit seinem Bevölkerungsanteil Entscheidungen verhindern, wenn es die Unterstützung von zwei der drei nächst größeren Staaten findet. Alle anderen Staaten brauchen hierfür mindestens drei Partner. Letztlich gleicht das demographische Netz also die deutsche Unterrepräsentation bei der Stimmengewichtung wieder aus, jedenfalls im (negativen) Sinne einer Sperrminorität.“
Der Konventsvorschlag sieht nun in Art. I-24 vor, diesen demografischen Faktor zu einer von zwei Bedingungen für das Zustandekommen eines jeden mit qualifizierter Mehrheit gefassten Beschlusses zu machen: „Beschließt der Europäische Rat bzw. der Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit, so muss diese der Mehrheit der Mitgliedstaaten entsprechen und mindestens drei Fünftel der Bevölkerung der Union repräsentieren.“ Bei 25 Mitgliedstaaten können demnach bis zu 12 Staaten überstimmt werden. Bei 450 Millionen Unionsbürgern umfasst die überstimmbare Minderheit von 40 Prozent immerhin ca. 180 Millionen EU-Bürger.
Was würde sich bei der Annahme dieses Konventsvorschlags konkret ändern? Nach dem geltenden Vertrag von Nizza sind für eine qualifizierte Mehrheit erforderlich: In der auf 25 Staaten erweiterten EU mindestens 72,3 Prozent der sogenannten gewichteten Stimmen, eine Mehrheit der Mitgliedstaaten und, sollte dies von einem Mitgliedstaat verlangt werden, der Nachweis, dass die hinter dem Beschluss stehende qualifizierte Mehrheit im Ministerrat zumindest 62 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentiert.
Sollte die Bevölkerungszahl, wie es der Konventsentwurf nun vorsieht, als positives Kriterium an die Stelle der gewichteten Stimmen treten, so würden sich die Machtverhältnisse zwischen den Staaten erheblich verschieben. Begünstigt wären davon die vier bevölkerungsstärksten Länder, und hier insbesondere wiederum Deutschland. Da die Länder Frankreich, Großbritannien, Italien und Deutschland gegenwärtig jeweils 29 gewichtete Stimmen haben, beträgt ihr prozentualer Anteil an den 345 Gesamtstimmen nach der Erweiterung nur jeweils 8,4 Prozent. Ganz anders sähe es hingegen aus, wenn die Bevölkerungszahl zu dem entscheidenden Kriterium wird. Dann würde sich allein der Anteil Deutschlands glatt auf 17 Prozent verdoppeln. Die Anteile Frankreichs, Großbritanniens und Italiens würden sich auf immerhin noch jeweils ca. 12 Prozent erhöhen. Da sich aber die von Spanien und Polen nur geringfügig von 7,8 auf 8 Prozent vergrößern, ginge der Einfluss dieser beiden Staaten zurück. Dies ist denn auch der Grund für ihren hartnäckigen Widerstand gegen die vom Konvent vorgeschlagenen Abstimmungsregeln.
Betrachtet man nun die möglichen Rückwirkungen des Konventsvorschlags auf denkbare Konstellationen bei Koalitionsbildungen im Ministerrat und Europäischen Rat, so ist bereits auf einen Blick erkennbar, dass die vier Großen mit zusammen 53 Prozent bereits fast die erforderlichen 60 Prozent erreichen würden. Für das Zustandekommen qualifizierter Mehrheiten bedarf es aber noch der Mehrheit der Mitgliedstaaten als zweites Erfordernis. Hier besitzt jeder Staat nur eine Stimme, egal ob es sich um Malta oder um Deutschland handelt. Da die vier großen Länder aber nur noch wenige Bündnispartner zum Erreichen der 60 Prozent-Schwelle bei der Bevölkerungszahl benötigen, werden sie bei der Suche nach einer Mehrheit der Mitgliedstaaten freier in ihrer Wahl. Nach dem Konventsvorschlag steigt daher auch die Bedeutung der kleinen Staaten, denn sie werden bei der Herstellung der einfachen Mehrheit der Mitgliedstaaten dringend gebraucht. Verlierer wären dagegen die mittelgroßen Staaten, neben Polen und Spanien die Niederlande aber auch Staaten mit jeweils rund 10 Millionen Einwohnern, wie Belgien, Griechenland, Portugal, Ungarn und die Tschechische Republik. Da mit der Einführung des demografischen Faktors ihr Gewicht zurückgeht, sinkt auch ihre Bedeutung als Bündnispartner.
Unterscheidet man bei möglichen Mehrheiten zwischen alten und neuen Mitgliedstaaten, also zwischen der EU-15 und der zukünftigen EU-25, so können die alten Mitgliedsländer nach den Vereinbarungen von Nizza ihre Mehrheit noch gerade so halten. Kommen aber Bulgarien und Rumänien (EU-27) dazu, so würden sie diese bereits verlieren. Würde auch noch die Türkei (EU-28) Mitglied werden, so hätten die gegenwärtigen EU-Länder überhaupt keine Gestaltungsmehrheit mehr. Die neuen Mitglieder würden andererseits die ihnen nach dem Nizza-Vertrag zustehende Sperrminorität nach der Annahme des Verfassungsentwurfs verlieren. Weder in einer EU der 25, noch der 27 oder der 28 würden sie darüber noch verfügen.
Die Abstimmungsregelungen sind für die politischen Auseinandersetzungen in der EU von entscheidender Bedeutung, insbesondere bei der Ausfechtung der anstehenden Verteilungskonflikte. Dies gilt sowohl für die Neuordnung der gemeinsamen Agrarpolitik als auch für die Zukunft der Regional- und Strukturfonds. Verlieren die neuen Mitgliedstaaten ihre Sperrminorität, so wird es für sie sehr viel schwerer werden, etwa bei den Entscheidungen über die Reform der Regional- und Strukturpolitik ihre Interessen zur Geltung zu bringen. Die von Transferleistungen der Union besonders abhängigen Kohäsionsländer (Spanien, Griechenland, Portugal, Irland und bald auch die mittel- osteuropäischen Staaten) verfügen nach der geltenden Nizza-Regelung in der EU der 25 ebenfalls noch über eine Sperrminorität. Sollte aber die vom Konvent vorgeschlagene Regelung Anwendung finden, so würden auch sie sie verlieren.
Die Ausweitung der Entscheidungen mit qualifizierten Mehrheiten
Die gegenwärtig vertraglich festgeschriebene Notwendigkeit der Einstimmigkeit im Ministerrat bei vielen Entscheidungen wird als ein besonderes Hemmnis für die zukünftige Handlungsfähigkeit der Union angesehen. Die mit der Erweiterung weiter wachsende Zahl von Mitgliedstaaten vergrößert naturgemäß die Schwierigkeit, zu einstimmigen Beschlüssen zu kommen. Es war daher vorgesehen, dass sich der Konvent dieser Frage im Besonderen annehmen sollte: „Die dritte Frage ist die, wie wir die Effizienz der Beschlussfassung und die Arbeitsweise der Organe in einer Union von etwa 30 Mitgliedstaaten verbessern können. Wie könnte die Union ihre Ziele und Prioritäten besser festlegen und besser für deren Umsetzung sorgen? Brauchen wir mehr Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit?“
Zwar waren bereits bei den vorangegangenen Vertragsrevisionen von Maastricht, Amsterdam und Nizza immer mehr Bereiche hinzugekommen, in denen mit qualifizierten Mehrheiten im Ministerrat abgestimmt wird, der große Durchbruch war jedoch ausgeblieben. Nach dem Konventsentwurf sollen nun Entscheidungen mit qualifizierten Mehrheiten gemäß Art. I-33 in Verbindung mit Art. III-302 zur Norm werden. Die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit wird daher auch als „ordentliches Gesetzgebungsverfahren“ bezeichnet. Da dabei regelmäßig das Europäische Parlament mit einbezogen ist, wird es auch Mitentscheidungsverfahren genannt. Im Konvent wurde die konkrete Frage, welche einzelnen Entscheidungen zukünftig in diesem Mitentscheidungsverfahren getroffen werden sollen, so gut wie überhaupt nicht angesprochen. Diese Dinge sind im Teil III des Entwurfs geregelt, dessen Entwurf erst kurz vor Ende der Konventsarbeit präsentiert wurde.
Vielfach wird befürchtet, dass zukünftige Vertragsänderungen, und damit auch eine weitere Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens angesichts von 25 und mehr EU-Staaten immer schwieriger werden, da jede einzelne Vertragsänderung ja von allen Staaten ratifiziert werden muss. Dies ist immer ein langwieriges und ein zudem ungewisses Verfahren, wie die überraschende Ablehnung des Nizza-Vertrages durch die irische Bevölkerung gezeigt hat. Es bestand deshalb vor allem im Präsidium des Konvents ein großes Interesse daran, eine Regelung zu finden, mit der der Anwendungsbereich des Mitentscheidungsverfahrens ausgeweitet werden kann, ohne gleich ein offizielles Vertragsänderungsverfahren durchführen zu müssen. In Art. I-24 wird mit der sogenannten „Passarelle“ nun ein autonomes Vertragsänderungsverfahren vorgeschlagen. Danach kann der Europäische Rat nach einem Prüfungsverfahren von mindestens sechs Monaten von sich aus einstimmig einen Beschluss erlassen, wonach bisher einstimmig zu treffende Entscheidungen in den Bereich der mit qualifizierter Mehrheit zu treffenden Entscheidungen übertragen werden können. Damit wäre dem Europäischen Rat erstmals die Möglichkeit gegeben, das Entscheidungsverfahren für einzelne Fragen von sich aus in ein anderes Abstimmungsverfahren zu überführen, ohne zuvor den Vertrag ändern zu müssen.
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