Bolkesteins Hammer Projekt Dienstleistungsbinnenmarkt 2010

Klaus Dräger

Erst vor einem Jahr hatte EU-Kommissar Frits Bolkestein das zehnjährige Bestehen des Europäischen Binnenmarkts gefeiert. Damals frohlockte er: „Nach zehn Jahren Binnenmarkt ist Europa kaum wiederzuerkennen. (Pressemitteilung vom 7.1.2003)“ Durch den Binnenmarkt seien seit 1993 etwa 2,5 Millionen neue Arbeitsplätze in Europa geschaffen worden. Das Bruttoinlandsprodukt der EU sei jetzt um 1,8 Prozent oder 164,5 Mrd. € höher als ohne Binnenmarkt. Aber, so tönte er, „der Binnenmarkt muss noch besser funktionieren. Die kommenden zehn Jahre sind genauso wichtig wie die vergangenen“.

Eigentlich kann er ja nicht wirklich klagen: die EU-Regierungschefs und das Europäische Parlament bemühen sich redlich. Der von Bolkestein angeschobene Finanzmarkt-Aktionsplan und Risikokapital-Aktionsplan wird einigermaßen fristgerecht umgesetzt. Beide sollen dazu beitragen, einen integrierten EU-Finanzmarkt zu schaffen. Sogar ein eigener Ministerrat zur „Wettbewerbsfähigkeit“ ist inzwischen eingerichtet worden. Doch das reicht ihm bei weitem nicht. „Wir fahren zwar einen Ferarri, doch nur bis zum zweiten Gang“, so sein Urteil über den bisherigen Fortschritt des Binnenmarkts.

Die auf drei Jahre (2003 – 2006) angelegte Binnenmarktstrategie der Kommission will denn auch den Binnenmarkt weiter vertiefen und neue Liberalisierungsprojekte anschieben (vgl. BAK 2003, Hall 2003b). Kernstück ist die Schaffung eines EU-Binnenmarkts für Dienstleistungen bis 2010. Der programmatische Titel dafür lautet: „Abbau der bürokratischen Hindernisse für die Wettbewerbsfähigkeit Europas“. Ganz nebenbei soll auch die Wasserversorgung und Abwasserentsorgung für den Wettbewerb geöffnet werden.

Vorbild EG-Binnenmarkt ´92

Wieder einmal soll Europas Wirtschaft durch sogenannte Strukturreformen flott gemacht werden – nach dem gleichen Muster wie seit Mitte der 1980er Jahre. Die Anfänge des europäischen Binnenmarktprojekts wirken wie eine wilde Verschwörungssaga aus einem alten Stamokap-Lehrbuch. 1983 trafen mit Unterstützung Francois Mitterands in Paris erstmals zwei EG-Kommissare und Vertreter von Unternehmen wie Fiat, Volvo, ICI, Nestle, Thyssen, Shell, Ciba Geigy, Philips und Siemens zusammen, um „das Fehlen eines homogenen europäischen Marktes“ zu debattieren. 1984 erstellte Wisse Dekker vom Philips-Konzern ein Thesenpapier (Europe 1990), das vom European Roundtable of Industrialists (ERT) als Plattform übernommen wurde. Es warb für die Schaffung eines einheitlichen Marktes für Güter, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräfte, die Harmonisierung der indirekten Steuern und die Öffnung des öffentlichen Beschaffungswesens. Um den einheitlichen Markt zu erreichen, seien insbesondere technische und materielle Schranken (Grenzkontrollen, unterschiedliche Produktstandards und –vorschriften etc.) zu beseitigen. Dies ginge am einfachsten, wenn in der Regel die jeweiligen nationalen Marktstandards gegenseitig anerkannt würden, anstatt sie auf europäischer Ebene zu harmonisieren.

So sollte z.B. gewachstes Obst aus Frankreich, das in Deutschland aufgrund nationalstaatlicher Vorschriften damals eigentlich nicht verkauft werden durfte, über dieses Verfahren dann doch auch in den deutschen Handel kommen. Der Grundgedanke des Binnenmarktprojekts: Nicht nur Produkte und Dienstleistungen selbst, sondern auch Regulierungen und Vorschriften sollten miteinander in Wettbewerb treten, denn der mündige Verbraucher kann ja selbst entscheiden.

Die Forderungen des ERT bildeten schließlich das Kernstück des von der Europäischen Kommission 1985 vorgelegten Weißbuchs zur Vollendung des Binnenmarkts. (vgl. Ziltener 1999:135ff., Balanyá u.a. 2000:19ff.) Mit der 1987 ratifizierten Europäischen Einheitlichen Akte (EEA) wurde der EG-Vertrag geändert und sah die Schaffung eines EG-Binnenmarkts bis zum 1.1.1993 vor. Nur für vergleichsweise wenige Bereiche – Sicherheit, Umwelt- und Verbraucherschutz, Gesundheit – sollten harmonisierte europäische Mindeststandards vereinbart und durch knapp 300 EG-Richtlinien umgesetzt werden.

Die wirtschaftstheoretische Konzeption hinter dem Binnenmarktprojekt war denkbar einfach gestrickt. Die Kosten der Unternehmen würden aufgrund entfallender Pflichten zur Anpassung an nationale Vorschriften und der Möglichkeit, für eine große europäische Binnenwirtschaft in größeren Serien zu produzieren (Skalenerträge), deutlich sinken. Ein steigender, europaweiter Wettbewerbsdruck werde diese Tendenz zusätzlich verstärken. Wenn so Stückkosten und Preise fallen und sich nach unten angleichen, könnten die Verbraucher für den gleichen Geldbetrag mehr Produkte und Dienstleistungen nachfragen. Das fördere Produktion und Beschäftigung und eine selbsttragende, dynamische Wirtschaftsentwicklung. Der Cecchini-Bericht von 1988 stellte auf dieser angebotstheoretischen Folie einen zusätzlichen Wachstumsimpuls von 2,5 bis 6,5 Prozent des EG-BIP und bis zu 5,7 Millionen neuer Arbeitsplätze durch den Binnenmarkt in Aussicht.

Bilanz der ersten Binnenmarktphase (1986 – 94)

1993 legte die Kommission eine eigene Schätzung der Auswirkungen des Binnenmarkts vor. Von einem Zuwachs von 9 Millionen Arbeitsplätzen zwischen 1986 und 1990 war zunächst die Rede. Dies musste sie bald erheblich korrigieren. Zwischen 1994 und 1996 hatte die Kommission eine Reihe unabhängiger empirischer Studien zu den Auswirkungen des Binnenmarkts in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse sie 1997 in einem Bericht zusammenfasste:
 Zwischen 1985/86 und 1994 entstanden per Saldo zwischen 300 000 und 900 000 neue Arbeitsplätze durch den Binnenmarkt. Die Erwerbslosenquote verharrte im EG-Durchschnitt bei 10 bis 11 Prozent.
 Eine europaweite Angleichung der Preise fand nicht statt.
 Die möglichen Skaleneffekte des Binnenmarkts wurden kaum genutzt, hingegen wuchs die Zahl der grenzüberschreitenden Unternehmenszusammenschlüsse in der EG um das drei- bis vierfache. Die Kommission kommentierte: „Die Unternehmen behaupten zwar, dass sie die Chancen der Größenvorteile voll ausnutzen, faktisch wählen sie aber die einfachere Lösung der Fusionen und Übernahmen, um rentabel zu bleiben.“
 Reale Wachstumseffekte schuf der Binnenmarkt nur für Irland, welches mit Steuerdumping ausländische Direktinvestitionen erfolgreich anlockte, und in bescheidenerem Ausmaß die Niederlande und Dänemark. Den säkularen Trend zu niedrigeren Wachstumsraten konnte das Binnenmarktprogramm nicht umkehren. Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf sank von rund 4 % (EWG 1960 – 1970) über 2,4 % (EWG 1970 – 1980) auf 2,06 % (EG-10 1980 – 1990) und zog auch bis 1998 nicht über den Durchschnitt der 1980er Jahre hinaus (Ziltener 2001).
 Die Transportkosten nahmen in der EG zwischen 1986 und 1994 um jährlich 5 Mrd. ECU ab und der Luftverkehr expandierte um 20 Prozent.

In einem zweiten Bericht zur Vorbereitung des Binnenmarkt-Projekts (Padoa-Schioppa-Bericht 1988) war schon früh darauf hingewiesen worden, dass der Binnenmarkt von einer nachfragestimulierenden makroökonomischen Politik begleitet, die Oligopolbildung durch energische Wettbewerbskontrolle verhindert, unerwünschte Verteilungseffekte beschränkt und eine ausgewogenere Regionalentwicklung durch Strukturpolitiken flankiert werden müssten. Die makroökonomische Politik der EG und ihrer Mitgliedstaaten wurde jedoch auf Inflationsbekämpfung und Sparpolitik gepolt. Dies hat die Nachfrage drastisch eingeschnürt. Die Wettbewerbskontrolle blieb vergleichsweise lax, weil die Kommission die Herausbildung weltmarktkonkurrenzfähiger europäischer Konzerne fördern wollte. Außerdem hat das Binnenmarktprojekt nicht nur durch die Zunahme des Transports den Druck auf die Umwelt erhöht. Unter dem Strich bleibt: Die mikroökonomisch fundierte Binnenmarktstrategie („Strukturreformen“) war nicht in die vom Cecchini-Bericht euphorisch prophezeiten makroökonomischen Effekte (dauerhaftes dynamisches Wachstum mit deutlich mehr Arbeitsplätzen) umgeschlagen. Die Kommission kommentierte dies lapidar so: „Im wirklichen Leben läuft es aber nur selten so glatt.“

Die zweite Phase des Binnenmarkts: Liberalisierungspolitik 1993 – 2003

Dieses Verdikt trifft auch auf die Vertiefung des Binnenmarkts durch zahlreiche Liberalisierungsprojekte (Abschaffung staatlicher Monopole, Öffnung vormaliger Strukturen der öffentlichen Daseinsvorsorge für den Wettbewerb) seit den 1990er Jahren zu. Die Liberalisierungspolitik versprach besseren Service zu sinkenden Preisen, mehr Wachstum, mehr Arbeitsplätze und mehr Wettbewerb. Auch diese Versprechen gingen nicht in Erfüllung. Die Privatisierung der Eisenbahnen in vielen EU-Ländern hatte zur Folge, dass die Fahrpreise beständig stiegen, das Streckennetz ausgedünnt wurde und Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit der Züge abnahmen. Im vollständig deregulierten Bahnsystem Großbritanniens funktioniert inzwischen so gut wie nichts mehr, und gleichzeitig sind die öffentlichen Subventionen für den Sektor kometenhaft in die Höhe geschossen. Der Gütertransport auf der Schiene ist EU-weit hingegen rückläufig.

Im Bereich der Telekommunikation sanken die Preise für Privatkunden in einer ersten Phase der Liberalisierung tatsächlich. Doch dieser Trend kommt allmählich zum Stillstand. Insbesondere die monatlichen Fixkosten (Grundgebühren etc.) erhöhen sich wieder. Die Liberalisierung im Strom- und Gassektor hat zwar zu kräftigen Preisabschlägen für Industriekunden geführt, doch das Preisniveau für die Privaten Haushalte blieb hoch. In fast allen liberalisierten Sektoren gibt es nicht mehr Wettbewerb, sondern eher oligopolistische Strukturen, die von einigen wenigen Großunternehmen beherrscht werden. Die Arbeitsplatzbilanz der Liberalisierung ist keineswegs positiv. Bei den öffentlichen Bahnen entfielen in der EU seit 1990 rund 40 % der Arbeitsplätze. Insgesamt gingen bei Telekommunikation, Eisenbahnen, Stromerzeugern und –versorgern nach vorsichtigen Schätzungen EU-weit 850 000 Arbeitsplätze verloren. Bei den verbliebenen Arbeitsplätzen in den liberalisierten Sektoren sind die Arbeitsplatzqualität, die Entlohnung und die Arbeitsbedingungen deutlich schlechter geworden (Flexibilisierung, Outsourcing, „Turnschuhbrigaden“ bei der Post etc.). (vgl. ÖGPP 2003).

EU und WTO: Selbstverstärkende Liberalisierung

Die Liberalisierungspolitik innerhalb der EU bildet mit der Liberalisierungspolitik auf globaler Ebene ein System kommunizierender Röhren, bei dem sich beide Prozesse gegenseitig verstärken. Der Telekommunikationssektor ist dafür ein beredtes Beispiel. Die Öffnung in der EU begann 1994 und sollte zum 1.1.1998 abgeschlossen sein. Auf Drängen der EU und der USA wurde im Rahmen der WTO (GATS) 1997 ein Abkommen über die Liberalisierung bei Basistelekommunikationsdiensten vereinbart. Das Ziel der EU war dabei klar: den „europäischen Champions“ wie Telefonica, Ericsson, Nokia, Siemens, Dt. Telekom etc. durch internationale Marktöffnung die Chance zu geben, sich mit strategischen Allianzen und Fusionen zu „global players“ zu entwickeln, die auch in Asien und Latein- und Nordamerika Marktanteile erobern. Bei den GATS-Verhandlungen 2000/2003 wurde hingegen unter anderem eine Liberalisierung des Wasser- und Abwassersektors und des öffentlichen Nahverkehrs ins Visier genommen – Bereiche, in denen die Liberalisierung in der EU kaum oder noch nicht begonnen hatte. Außenhandelskommissar Pascal Lamy und die Kommission beteuerten sogar unentwegt, die Öffnung des Wassersektors stehe in der EU nicht auf dem Programm. Dies hat sich spätestens mit der Veröffentlichung der Binnenmarktstrategie 2003 – 2006 als glatte Unwahrheit herausgestellt.

Bei der Vorbereitung der GATS-2000-Runde durch die Kommission entpuppten sich wieder die gleichen Mechanismen wie anfangs beim Binnenmarktprojekt. Der ehemalige EU-Kommissar Sir Leon Brittain hatte tatkräftig dabei geholfen, dass die großen Dienstleistungsunternehmen in der EU sich im European Services Forum (ESF) zusammenschlossen – wie weiland der European Roundtable of Industrialists von der Kommission in den 1980ern angeregt worden war. Mehrere interne Memos der Kommission aus den Jahren 2001 und 2002 belegen, wie diese aktiv um Vorschläge des ESF zur Formulierung der EU-Verhandlungsposition zur GATS-2000-Runde ersucht hat. So schrieb ein Abteilungsleiter der Generaldirektion Handel (João Aguiar Machado) etwa am 22. Oktober 2002 an den Geschäftsführer des European Services Forum, Pascal Kerneis: „Wir würden einen Beitrag der Industrie zu dieser Anstrengung sehr begrüßen, sowohl was die Identifizierung von Problemen als auch die Ausarbeitung spezifischer Forderungen angeht. Ohne den Input von ESF laufen wir sonst Gefahr, dass unsere Bemühungen zu einer bloßen intellektuellen Geistesübung geraten …“ (vgl. Wesselius 2002).

Was Pascal Lamy bei GATS bisher noch nicht gelang – ein erfolgreicher Abschluss zur Ausdehnung der globalen Liberalisierung von Dienstleistungen – versucht sein Kollege Frits Bolkestein jetzt wenigstens auf EU-Ebene durchzupauken. Im Rahmen des hier geschilderten Umfelds ist es kaum verwunderlich, dass zur Mitteilung der Kommission über den Dienstleistungsbinnenmarkt vorwiegend die betroffenen Unternehmen, kaum aber Arbeitnehmervertretungen, Gewerkschaften oder Verbraucherschützer befragt wurden.

Die „Dritte Periode“: Dienstleistungsbinnenmarkt bis 2010

Die Bedeutung des neuen Projekts kann nicht genug hervorgehoben werden: Der Dienstleistungssektor steht im EU-Durchschnitt inzwischen für 70 % der Wirtschaft, die von Bolkesteins Richtlinienvorschlag betroffenen Dienstleistungen für 50 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit der EU. Der Richtlinienentwurf gilt für sämtliche Dienstleistungen für Verbraucher und Unternehmen, gleichgültig ob sie persönlich oder im Fernabsatz (z.B. via Internet oder Telefon) erbracht werden. Er definiert Dienstleistung als „jegliche Leistung, mit der der Erbringer am Wirtschaftsleben teilnimmt, ungeachtet seines rechtlichen Status, des Tätigkeitszwecks und des betreffenden Tätigkeitsbereichs.“

Ausgenommen sind erstens die Bereiche, für die bereits eigene sektorale EU-Liberalisierungsvorschriften gelten (z.B. Telekommunikation, Finanzdienstleistungen, Verkehr etc.). Nicht betroffen sind ferner die hoheitlichen Bereiche der Staatstätigkeit (Polizei, Justiz, Militär) und solche Leistungen, die vom Staat aufgrund seiner sozialen, kulturellen, bildungspolitischen oder rechtlichen Verpflichtungen erbracht werden (z.B. öffentlicher Schulunterricht, soweit er kostenlos erfolgt). Die noch nicht liberalisierten Strukturen der öffentlichen Daseinsvorsorge sind betroffen, sofern sie eine „wirtschaftliche Tätigkeit“ darstellen.

Als Beispiele für betroffene Dienstleistungssektoren nennt die Kommission: „Unternehmensberatung, Zertifizierungs und Prüfungs oder Wartungstätigkeiten, die Unterhaltung und die Bewachung von Büroräumen, Werbung, Personalagenturen, einschließlich Zeitarbeitsvermittlungen, die Dienste von Handelsvertretern, Rechts- und Steuerberatung, Dienstleistungen des Immobilienwesens, wie die Tätigkeit der Immobilienmakler, Dienstleistungen des Baugewerbes und der Architekten, Handel, die Veranstaltung von Messen, die Vermietung von Kraftfahrzeugen, Sicherheitsdienste, Dienstleistungen der Fremdenverkehrsbranche, einschließlich der Dienste von Reisebüros und Fremdenführern, audiovisuelle Dienste, Sportzentren und Freizeitparks, Dienstleistungen im Freizeitbereich, Gesundheitsdienstleistungen und häusliche Dienste, wie die Pflege älterer Menschen.“ Darüber hinaus soll die Richtlinie auch für reglementierte Berufe (z.B. Ärzte, Notare, Rechtsanwälte etc.) gelten, wobei bereits geltende EU-Vorschriften davon unberührt bleiben.

Für das Gesundheitswesen soll eine noch von einigen Auflagen beschränkte europaweite Patientenmobilität gelten (Erstattung von ambulanter Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat zu den Sätzen des Herkunftslands, eventuelle Genehmigung für Krankenhausbehandlung). Das Europäische Parlament hat wiederholt schon einen vollständigen Binnenmarkt für Gesundheitsprodukte und –dienstleistungen gefordert. Das Beispiel der Leih- und Zeitarbeitsfirmen und Personalagenturen zeigt übrigens, dass über den Dienstleistungsbereich hinaus auch das produzierende Gewerbe und die Land- und Forstwirtschaft betroffen wären.

Herkunftslandprinzip – Wettbewerb der Rechtssysteme

Hauptziel der Richtlinie ist, die „bürokratischen Hindernisse für den grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr und die Wettbewerbsfähigkeit der Dienstleistungsbranchen“ zu beseitigen. Damit kommen die nationalstaatlichen Regelwerke zur Durchsetzung allgemeiner Standards gegenüber grenzüberschreitenden Dienstleistern aus dem Ausland sowie nachgelagert die nationalstaatlichen Ordnungsregelungen im Bereich des Gewerbe- und Handwerksrechts, des Unternehmensrechts bis hin zu Pflichtversicherungen ins Visier. Bolkestein spricht Klartext: „Die nationalen Vorschriften sind z. T. archaisch, übertrieben aufwändig und verstoßen gegen das EU-Recht. Diese Vorschriften müssen schlichtweg verschwinden. Wesentlich länger ist die Liste der unterschiedlichen nationalen Vorschriften, die grundlegend reformiert werden müssen. (Pressemitteilung vom 13.1.2004)“

Europäisch harmonisierte Vorschriften für den Dienstleistungsbinnenmarkt sind hingegen nur für wenige Bereiche vorgesehen (z.B. finanzielle Sicherheiten und Berufshaftpflicht bei risikobehafteten Dienstleistungen, Werbung in den reglementierten Berufen, multidisziplinäre Tätigkeiten). Ergänzende Harmonisierung soll in den Bereichen Geldtransporte, Gewinnspiele und gerichtliche Eintreibung von Forderungen erfolgen. Ansonsten geht der Entwurf jedoch nach dem einfachen Prinzip vor: erst einmal wird liberalisiert und dereguliert, später vielleicht in punkto Verbraucherschutz und anderen Fragen mit europäischen Mindestvorschriften nachgebessert.

Im Zentrum steht die Durchsetzung des Herkunftslandprinzips: ist ein Dienstleister in einem EU-Mitgliedstaat rechtmäßig tätig, so kann er seine Dienstleistungen auch in einem anderen Mitgliedstaat anbieten, ohne dort weitere Vorschriften erfüllen zu müssen. Damit wird ein radikaler Wettbewerb der Rechtssysteme eingeleitet: in jedem einzelnen Mitgliedstaat würden künftig 25 verschiedene Unternehmensrechtsysteme etc. neben- und miteinander konkurrieren. Die Bekämpfung von Scheinselbständigkeit würde erschwert. Artikel 16 der Richtlinie würde den Mitgliedstaaten „die Anwendung bestimmter vertraglicher Beziehungen“ untersagen, „welche eine selbständige Tätigkeit des Dienstleistungserbringers verhindert oder beschränkt.“

Der Richtlinienentwurf verbietet in Artikel 14 jedem Mitgliedstaat, dem Dienstleistungsunternehmen die Pflicht zur Errichtung einer Hauptniederlassung aufzuerlegen, Mehrfachregistrierungen zu untersagen, eine Mindestdauer der Tätigkeit auf dem eigenen Hoheitsgebiet zu verlangen oder einen Mindestzeitraum für die Aufrechterhaltung der Unternehmensregistrierung in seinem eigenen Register vorzuschreiben. Das ist eine Aufforderung an die Unternehmer zur Schnäppchenjagd bei Arbeitnehmerrechten, Unternehmens- und Steuerrecht, Vorschriften zur Sicherheitsausrüstung usw.

Ein Unternehmen könnte sich einfach in dem Mitgliedstaat mit den niedrigsten rechtlichen Anforderungen und Kontrollen registrieren lassen – Briefkastenfirma genügt – und danach in jedem anderen Mitgliedstaat zu dessen „günstigen Heimatbedingungen“ tätig werden. Es könnte ferner z.B. in Deutschland als Unternehmen aus Portugal auftreten und in Dänemark als Unternehmen aus Slowenien – Mehrfachregistrierung ist ja erlaubt. So könnte es dann auch nach den jeweils „günstigsten Bedingungen“ für verschiedene Tätigkeitsfelder (Fensterreinigung, Büroreinigung etc.) differenzieren. Mitgliedstaaten mit vergleichsweise niedrigen rechtlichen Anforderungen und Kontrollen dürften von einer solchen Ausflaggungswelle profitieren, blieben bei ihnen doch immerhin Registrierungsgebühren, Steuerzahlung usw. hängen. Sie würden sich erfahrungsgemäß auch jedem Versuch widersetzen, ihre Standards zu erhöhen. In der Folge würde ein Dumpingwettlauf nach unten eingeleitet. Da nicht einmal die Einrichtung eines EU-Handelsregisters vorgesehen ist, wäre unternehmerische Tätigkeit in den Dienstleistungsbranchen ohnehin kaum noch wirksam zu kontrollieren.

Die „soziale Dimension“ der Dienstleistungsfreiheit

Als soziale Beruhigungspille behauptet Bolkestein, dass in Bezug auf die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit das Bestimmungslandsprinzip der geltenden EU-Entsenderichtlinie bestehen bleibe. Die Entsenderichtlinie sieht vor, dass die „Kernarbeitsnormen“ des Bestimmungslandes gelten – etwa gleiches Mindestentgelt, gleiche Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten etc. für Arbeitnehmer portugiesischer Subunternehmer, die auf einer französischen Baustelle arbeiten. Der Richtlinienentwurf nimmt dem Bestimmungsland aber nahezu alle effektiven Kontrollmöglichkeiten. Für die Einhaltung des Entsenderechts soll nämlich das Entsendeland selbst zuständig werden.

Welches Interesse aber sollte z.B. Portugal daran haben, dass von seinen im Ausland tätigen Dienstleistern französische „Kernarbeitsnormen“ eingehalten werden? Und wie sollte es diese Einhaltung effektiv kontrollieren, da es ja mangels Hoheitsbefugnissen keine Kontrollen außerhalb seines Staatsgebiets vornehmen kann? Bereits jetzt ist das europäische Entsenderecht überwiegend geduldiges Papier – in der Praxis treten unzählige Rechtsverletzungen auf, die z.B. mangels EU-Regelungen zur Vollstreckung von Bußgeldbescheiden in anderen Mitgliedstaaten, mangels flächendeckender Kontrollen etc. nicht verfolgt werden. Bolkesteins Neuregelung würde diesen Bereich endgültig in ein Paradies für Scheinfirmen, zwielichtige Personalvermittler und Sozialabgabenhinterzieher verwandeln.

Im Hinblick auf die reglementierten Berufe gilt die Aufmerksamkeit der Kommission eher der Aufhebung von Werbeverboten, die als altmodisch angesehen werden. Ob es Europas Verbrauchern so sehr hilft, wenn demnächst „Dr. Feelgood“ im Fernsehen seine Fähigkeiten als Arzt oder „Liebling Kreuzberg“ sein Talent als Rechtsanwalt anpreisen sollten, sei mal dahin gestellt. Statt klarer öffentlicher Rahmenregelungen für ihre Tätigkeit setzt die Kommission eher auf freiwillige Verhaltenskodizes und eigene Standesrichtlinien der Berufsverbände.

Mit Ausnahme der deutschen IG BAU haben die deutschen und wohl die Mehrzahl der europäischen Gewerkschaften auf das Projekt Dienstleistungsbinnenmarkt bislang kaum reagiert. Hier scheint sich zu wiederholen, was sich bereits bei der Durchsetzung der EU-Richtlinie über betriebliche Rentensysteme abspielte (vgl. Brie/Dräger 2001). Wenn dies so bleibt, hat die EU weiterhin leichtes Spiel mit ihren angebotsorientierten „Strukturreformen“.

1997 schrieb der damalige EU-Binnenmarktkommissar Mario Monti: „Der Binnenmarkt ist (…) ein kontinuierlicher Prozess. Er ist nicht so sehr ein Rechtsrahmen, als vielmehr eine Geisteshaltung.“ Wie wahr: eine Geisteshaltung, um nicht zu sagen, eine Theologie, die sich nicht mehr um eine Überprüfung ihrer Dogmen an der Wirklichkeit zu scheren braucht. Sie ist nunmehr zu einer Obsession gesteigert worden, die in den aller gesellschaftlichen Verantwortung entledigten Marktstaat und eine Marktgesellschaft führt. Wo bleibt das Gegenprojekt einer neuen europäischen Aufklärung?

Literatur
Balanyá, Belen u.a. (2000): Europe Inc. Regional & Global Restructuring and the Rise of Corporate Power, London
Brie, André/Dräger, Klaus (2001): Bolkesteins Casino, in: Sozialismus 10-2001
Bundesarbeitskammer Österreichs BAK (2003): Stellungnahme zur Binnenmarktstrategie 2003 – 2006, ca. 50 Seiten, www.akeu.at
Cecchini, Paolo (1988): Europa ´92. Der Vorteil des Binnenmarktes, Baden-Baden
Europäische Kommission (1985): Weißbuch Vollendung des Binnenmarktes, KOM (85) 310
Europäische Kommission (1993): Weißbuch Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung, KOM (93) 700
Europäische Kommission (1997): Der Binnenmarkt und das Europa von morgen, Brüssel
Europäische Kommission (2002): Der Stand des Binnenmarkts für Dienstleistungen, KOM (2002) 441
Europäische Kommission (2003a): Binnenmarktstrategie – Vorrangige Aufgaben 2003 – 2006, KOM (2003) 238
Europäische Kommission (2003b): Anwendung der Binnenmarktvorschriften im Bereich der Gesundheitsdienste, SEK (2003) 900
Europäische Kommission (2004): Vorschlag für Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt, KOM (2004) 2
Hall, David (2003a): Water and DG Competition, www.psiru.org/reports
Hall, David (2003b): The EC Internal Market Strategy – Implications for Water and other Public Services, www.psiru.org/reports
ÖGPP (2003): Privatisierung und Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen in der EU, Zusammenfassung, Wien; (außerdem: zahlreiche sektorspezifische Untersuchungen auf www.politikberatung.or.at) Österreichische Gesellschaft für Politikberatung und Politikentwicklung
Padoa-Schioppa, Tommaso u.a. (1988): Effizienz, Stabilität und Verteilungsgerechtigkeit. Eine Entwicklungsstrategie für das Wirtschaftssystem der Europäischen Gemeinschaft, Wiesbaden
Wesselius, Erik (2002): GATS 2000 – Corporate Power at Work, TNI Briefing Series No. 2002/6, www.tni.org
Ziltener, Patrick (1999): Strukturwandel der europäischen Integration, Münster
Ziltener, Patrick (2001): Wirtschaftlich Effekte der europäischen Integration – Theoriebildung und empirische Forschung, MPI Working Paper 07/2001, www.mpi-fg-koeln.mpg.de
Ziltener, Patrick (2003): Hat der EU-Binnenmarkt Wachstum und Beschäftigung gebracht?, WSI-Mitteilungen 4/2003

Anhang:
Tabelle 1
Durchschnittliche jährliche BIP-Wachstumsraten in Europa

Land 1980 – 1990 1990 – 1998
Frankreich 2,3 1,5
Deutschland 2,2 1,6
Großbritannien 3,2 2,2
Italien 2,4 1,2
Niederlande 2,3 2,6
Belgien 2,0 1,6
Dänemark 2,3 2,8
Irland 3,2 7,5
Spanien 3,0 1,9
Portugal 3,1 2,3
Griechenland 1,8 2,0
Österreich 2,2 2,0
Schweden 2,3 1,2
Finnland 3,3 2,0
Quelle: Ziltener 2001; Daten aus Weltentwicklungsbericht 1999/2000, Tab. 11

Ausgewählte Liberalisierungsprojekte im EU-Binnenmarkt

„Fernsehen ohne Grenzen“ (1989, Aufhebung staatlicher Rundfunkmonopole)
Liberalisierung des Kapitalverkehrs (seit 1990)
Telekommunikation (seit 1988/90 und 1995 schrittweise Vertiefung)
Energiebinnenmarkt (Elektrizität seit 1997 und Gas seit 1998, schrittweise Vertiefung)
Bahn (Gütertransport, Passagiertransport, seit 1990 schrittweise Liberalisierung)
Postdienste (seit 2003, schrittweise Liberalisierung 2006 bis 2009 geplant)
Finanzmarktaktionsplan (seit 1999, schrittweise Umsetzung bis 2005, unter anderem Öffnung der Märkte für Finanzdienstleistungen)
Pensionsfondsrichtlinie (seit 2003, Liberalisierung Anlagevorschriften für betriebliche Rentensysteme)
Öffentliches Auftragswesen (seit Dezember 2003)
Einheitlicher Europäischer Luftraum (in Verhandlung, u.a. Wettbewerb Flugverkehrsüberwachung)
Hafenliberalisierung (vorerst blockiert)
Öffentlicher Personennahverkehr (Ausschreibungspflicht, „kontrollierter Wettbewerb“, in Verhandlung)

Der Artikel erschien im Supplement der Zeitschrift Sozialismus 5/2004