Sahra Wagenknecht bei spiegel-online, 06.10.2004: „Die EU stellt der Türkei einen Persilschein aus“

„Wer jemals an die Kopenhagener Beitrittskriterien als Grundbedingung für Beitrittsverhandlungen geglaubt hat, wurde im Fall der Türkei eines Besseren belehrt. Was kümmern die EU Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte, wenn ganz anderes auf dem Spiel steht? Es winkt die Perspektive eines riesigen neuen Absatzmarkts für EU-Produkte sowie die Erweiterung des EU-Einflusses in einer strategisch überaus bedeutsamen Weltregion. Für die Erfüllung der politischen Kriterien reichen der EU in einem solchen Fall dann auch Absichtserklärungen und im Schnellverfahren verordnete formale Gesetzesänderungen. Dass die Realität in der Türkei weiterhin ganz anders aussieht, dass immer noch gefoltert wird, die Justiz alles andere als rechtsstaatlich agiert, Meinungsfreiheit und Minderheitenrechte in weiter Ferne liegen und dass Gesetzesvorhaben wie die Strafbarkeit von Ehebruch weiterhin möglich sind, ist unerheblich. Die EU stellt der Türkei einen Persilschein aus. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich bin für einen EU-Beitritt der Türkei und lehne die unsägliche ausländerfeindliche und rassistische CDU-Kampagne gegen den Beitritt vollständig ab. Die Türkei muss jedoch die politischen Beitrittskriterien erfüllen. Eine positive Entscheidung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zum jetzigen Zeitpunkt halte ich deshalb für fatal.“