Politik entscheidet
Brüsseler Spitzen, ‚Neues Deutschland‘ vom 22.10.2004
Die Polit-Rhetorik einiger Aktivisten in und außerhalb der PDS zum EU-Verfassungsvertrag ist wohl kaum noch zu überbieten. Er sei »asozial« und eine »Kriegsverfassung«, heißt es. Ganz anders die Sicht von Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen (NGO). Übereinstimmend stellten DGB und Europäischer Gewerkschaftsbund (EGB) fest, der EU-Verfassungsvertrag bringe eine »klare Verbesserung« für die arbeitenden Menschen. Erstmals seien die Ziele »soziale Marktwirtschaft«, »Vollbeschäftigung«, »soziale Gerechtigkeit« und Bekämpfung »sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung« in den EU-Vertrag aufgenommen worden. Um der Globalisierung und der Macht des multinationalen Kapitals zu begegnen und Neoliberalismus zu bekämpfen, so der EGB, »brauchen Gewerkschaften und Zivilgesellschaft eine EU mit starken sozialen Werten«. Deshalb könne die Verfassung trotz großer Mängel »der Anfang eines langen Prozesses« in Richtung eines sozialen Europas sein.
Auffällig ist, dass die meisten, die heute wortgewaltig Kritik üben und zu Kampagnen gegen die Verfassung aufrufen, die mehrere Jahre währende Diskussion im Rahmen der öffentlich stattfindenden Konvente zur Grundrechtecharta und zur Verfassung entweder weitgehend ignorierten oder kaum Alternativvorschläge anzubieten hatten – und zwar im Gegensatz zu Gewerkschaften, Kirchen, Verbänden, Universitäten und NGO. Peinlich wird es darüber hinaus, wenn jetzt ein »anderer Verfassungsvertrag« gefordert wird, der »Rassismus und Antisemitismus« ächten, die »Gleichstellung von Mann und Frau« sichern oder die »Vielfalt der Kulturen« achten soll – alles Forderungen, die im vorliegenden Entwurf verankert sind.
Ausgeblendet wird, dass die Verfassung die EU gravierend verändert, bedeutet sie doch die Neugründung der Europäischen Union und nicht die bloße Fortschreibung bisheriger Verträge. Die wirtschaftlich beherrschte Union mit Binnenmarkt und Euro wird nicht nur als Union der Staaten, sondern nunmehr auch als »Union der Bürger« definiert. Darauf ruht die Charta der Grundrechte, das Herzstück der Verfassung, in der ausgehend von der Unteilbarkeit der Grund- und Menschenrechte neben klassischen Freiheitsrechten erstmals in einem europäischen Dokument gleichberechtigt auch soziale Rechte enthalten sind. Künftig werden auch EU-weite Bürgerbegehren möglich.
Doch der Knackpunkt ist, die Verfassung mit ihrer inneren Widersprüchlichkeit ermöglicht beides: auf der einen Seite eine neoliberal angelegte Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik sowie militärische Machtprojektion nach außen – andererseits den Erhalt und den Ausbau des europäischen Sozialmodells sowie eine Strategie der zivilen Konfliktbeilegung und die Stärkung von UNO und Völkerrecht. In welche Richtung die Reise geht – darüber entscheidet letztendlich die Politik, und die hängt von Kräfteverhältnissen ab. Sie müssen deutlich nach links verschoben werden, und dafür eröffnet der Verfassungsvertrag neue Spielräume.
Scheitert der Verfassungsprozess, ist Chaos programmiert – bis hin zum Zerfall der EU. Eine »progressive Krise«, von der mache Linke heute bereits öffentlich schwärmen, wird das wohl kaum. Es ist ein Spiel mit dem Feuer, denn diverse nationalistische Kräfte nehmen schon Witterung auf, und die Dominanz der USA in der Welt würde gestärkt. Verkommt die EU zur Freihandelszone de Luxe, werden Neoliberalismus und Marktradikalismus vollends triumphieren, und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Schwachen und Armen werden die ersten Verlierer sein. Wer gegen die Verfassung ist, muss sich über diese Implikationen im Klaren sein.
Die PDS-Europaabgeordnete Sylvia-Yvonne Kaufmann war Mitglied des Verfassungskonvents und ist Vizepräsidentin des Europaparlaments.