Im Gespräch: André Brie, Afghanistan-Berichterstatter des Europaparlaments, über Wahlsieger und Warlords am Hindukusch sowie eine mögliche Fusion von ISAF und »Enduring Freedom«
Interview mit dem „Freitag“ vom 29. Oktober 2004
FREITAG: Gerhard Schröder wusste 24 Stunden nach den Präsidentenwahlen in Afghanistan bei seinem Kabul-Besuch, dass Hamid Karzai gewonnen hat. Was wissen Sie, drei Wochen nach dem Wahltag, über das Ergebnis?
ANDRE BRIE: Das zeigte natürlich, dass Gerhard Schröder sehr gut informiert war, auch wenn seine Prognose nicht weiter verwunderlich schien. Die Wahlen waren langfristig auf Karzai zugeschnitten, der mit nahezu 60 Prozent gewinnen dürfte, wie sich das nach Auszählung von inzwischen 90 Prozent der Stimmen abzeichnet.
Wird dieses Votum Hamid Karzai mehr politische Autorität bringen?
Er wird mehr Autorität und eine andere Legitimation haben. Diese Wahlen waren für Afghanistan – trotz aller Probleme – ein enorm wichtiges Ereignis. Eine solche Abstimmung gab es zum ersten Mal in der Geschichte des Landes. Ich habe selbst erlebt, wie viel Hoffnung damit verbunden war. Nur sind die inneren Konflikte damit keineswegs gelöst. Man wird auch weiter versuchen, sie in einer eher fragwürdigen Weise auszubalancieren.
Was meinen Sie damit?
Die Entwaffnung und Entmachtung der Warlords schreitet nicht voran, so dass die Sicherheit für die Bevölkerung nach wie vor nicht gewährleistet ist. Das größte Problem besteht aber darin, dass für Afghanistan kein wirklich demokratisches Fundament existiert – ja, das es nicht einmal mit den Mitteln angestrebt wird, die zur Verfügung stehen. Man hat beispielsweise das Parteiengesetz massiv verletzt, indem Warlords, die Privatarmeen besitzen, als Parteiführer zur Präsidentenwahl zugelassen wurden. Das Gesetz verbietet aber Parteien, die über einen bewaffneten Arm verfügen.
Könnte das bei den für 2005 vorgesehenen Regional- und Parlamentswahlen anders sein?
Schwer zu sagen. Werden die Warlords mit ihren Parteien dann zugelassen, kann dieses Votum bestenfalls ein Gradmesser für die Stabilität des Landes sein, nicht für demokratische Verhältnisse.
Wie deuten Sie den Umstand, dass es offenbar während der jetzigen Wahl kaum Anschläge gab?
Das zeigt, dass die Taliban deutlich geschwächt sind und kaum mehr Rückhalt unter der Bevölkerung haben. Andererseits war dies natürlich auch ein Indiz dafür, dass die Macht der lokalen Autoritäten nicht angetastet wurde und sie deshalb kaum Grund hatten, gegen die Wahlen vorzugehen. Selbst wenn einige wegen des teilweise irregulären Wahlverlaufs Protest eingelegt haben – sie sind in das System voll integriert, nicht durch eine starke Zentralmacht, die gibt es nach wie vor nicht, sondern weil niemand ihre Pfründe in Frage stellt.
Die Amerikaner haben jüngst auf dem Treffen der NATO-Verteidigungsminister im rumänischen Poiana Brasov auf eine Fusion des internationalen ISAF-Korps (*) und der US-Verbände gedrängt, die als Teil der Anti-Terror-Operation »Enduring Freedom« in Afghanistan stehen. Wollen sie nur entlastet sein oder geht es um mehr?
Der Hauptgrund ist schon, dass die USA mit dem Irak-Krieg an die Grenzen ihrer militärischen und politischen Fähigkeiten gerückt sind. Jetzt sollen die NATO-Verbündeten voll eingebunden werden, um die Folgen dieser verfehlten Politik mit zu tragen – wie sich das im Irak gleichfalls abzeichnet.
Von den Kapazitätsgrenzen der Amerikaner einmal abgesehen, geht es nicht auf längere Sicht um die militärische Sicherung eines Protektorats Afghanistan, das unter einem einheitlichen Kommando stehen soll?
Das sicher auch. Sowohl Afghanistan wie auch der Kosovo, Bosnien-Herzegowina oder der Irak sind darauf angelegt, langfristig besetzt zu bleiben. Vor allem jedoch sollen die Vereinten Nationen, die in den wichtigsten Krisenregionen der Erde nach wie vor einen besseren Ruf als die USA haben, zum Instrument der amerikanischen Politik gemacht werden
Ist Letzteres eines der Motive für die deutsche Seite, um den amerikanischen Wünschen mit Skepsis und Ablehnung zu begegnen?
In der deutschen politischen Klasse gibt es ein beträchtliches Interesse daran, Afghanistan als positives Gegenmodell zum Irak vorzeigen zu können – durch eine starke UNO, durch Multilateralismus, durch die Wiederaufbauteams, die in Afghanistan für Sicherheit, Stabilität und Demokratisierung sorgen sollen. Ein anderes Motiv ergibt sich aus den zivilgesellschaftlichen Organisationen, die in Afghanistan – anders als im Irak – noch sehr aktiv sind und bei einer Fusion von ISAF und Enduring Freedom akut gefährdet wären. Denn in einem solchen Fall brauchte man ein anderes UN-Mandat …
… ein stärkeres als das jetzt für ISAF erteilte Selbstverteidigungsmandat.
Das wäre unvermeidlich. Damit will ich nicht gesagt haben, dass ich für solch ein starkes Mandat bin – ich bin für eine andere Strategie, die den politischen und sozialen Aufbau, aber eben auch eine wirksame Hilfe für die zivilgesellschaftlichen Strukturen in den Mittelpunkt stellen würde.
Sind diese Strukturen durch Parteien präsent?
Es gibt Parteien, die leider in den Hintergrund gedrängt werden, weil sich ihr Aktionsradius auf Kabul beschränkt, sie kaum unterstützt werden und über keine Medienpräsenz verfügen.
Zum Beispiel?
Eine Nachfolgepartei der einstigen Demokratische Volkspartei (**) die zweifellos diskreditiert ist, aber im Dialog mit anderen Parteien steht. Es gibt eine Republikanische Partei, eine Liberale Partei, auch eine Monarchistische Partei, die durchaus keine rückwärts gewandte Ideen vertritt.
Angenommen, es käme zu einer Verschmelzung von ISAF und »Enduring Freedom«, wäre dann der Einsatz der Bundeswehr durch das jetzige Mandat des Bundestages gedeckt?
Eindeutig nicht.
Das Gespräch führte Lutz Herden
(*) International Stabilization Assistance Force
(**) Von 1978 bis 1992 dank sowjetischer Hilfe an der Macht.