Tobias Pflüger: Opposition zu Barroso – Interview im Schwäbischen Tagblatt vom 15.Juli 2004

Auch für Tobias Pflüger war es eine Überraschung: Die PDS übersprang bei der letzten Europawahl locker die Fünf-Prozent-Marke, und so huschte auch der unabhängige Kandidat aus Tübingen ins Europa-Parlament. Inzwischen ist Pflüger schon mitten drin in der Europäischen Politik. Um die Arbeit des Europäischen Parlaments transparenter zu machen und das größer gewordene Europa unseren Leser(inn)en näher zu bringen, begleitet tagblatt online den 39-jährigen Politologen in seinem neuen politischen Umfeld. In unregelmäßigen Abständen lassen wir „unseren Mann in Brüssel“ zu Wort kommen.

Herr Pflüger, am 13. Juni war die Europawahl, seit dem 16. Juni sind Sie schon in Brüssel. Wie haben Sie so schnell eine Wohnung gefunden?

Die Fraktionssitzungen fingen schon am 16. Juni an, jede Woche Dienstag, Mittwoch und meistens Donnerstag. Es gab Treffen meiner Fraktion, der GUE/NGL (Konföderierte vereinigte Linke/Nordisch Grüne Linke) und meiner PDS-Delegation mit sieben Mitgliedern der PDS- Liste. Bisher wurde und wird im wesentlichen ausgehandelt, wer was in Zukunft in Brüssel macht. Das heißt, wer kommt in welche Ausschüsse, wie organisiert sich die Fraktion und die Delegation, wer bekommt welche Posten, was passiert mit den bisherigen wissenschaftlichen Mitarbeiter/innen der Fraktion, in welche Räumlichkeiten kommen die Büros der Abgeordneten u.v.a.m.

Eine Wohnung habe ich inzwischen auch gefunden – ein Ein-Zimmer Apartment, nur zehn Minuten entfernt vom Europaparlament. Im übrigen von einem deutschen Vermieter, den ich aus gemeinsamer politischer Arbeit kenne. Zu Anfang war ich in Hotels untergebracht.

Frage: Sind Sie überhaupt schon richtig in Brüssel angekommen? Das ging doch alles etwas schnell…

… Ja, ich hätte mir nach dem doch sehr stressigen Wahlkampf Urlaub gewünscht, die anderen neuen Delegationsmitglieder wie Sarah Wagenknecht oder Gabi Zimmer haben kurz Urlaub gemacht, das war sicher keine falsche Entscheidung. Außerdem gibt es für die „Neuen“ noch keine eigenen Büros, so dass wir zuerst bei den „Alten“ in deren Büros mit arbeiteten, dann ein heruntergekommenes Verfügungsbüro im hintersten Winkel des Europaparlamentsgebäudes zugewiesen bekamen und nun zu dritt (die drei „Neuen“ auf der PDS-Liste) Gabi Zimmer, Sarah Wagenknecht und ich im früheren Büro des ehemaligen Abgeordneten Hans Modrow eine Bleibe gefunden haben. Aber vom 26. Juli an werden wir eigene Büros haben.

Frage: Wie sieht denn derzeit Ihr Arbeitsalltag aus? Kommen Sie eigentlich auch mal aus der Stadt heraus?

Der derzeitige Arbeitsalltag besteht hauptsächlich aus Gesprächen mit MdEP-Kolleg(inn)en, Fraktion-Mitarbeiter/innen und Angestellten des Europaparlaments zur Klärung aller möglicher Fragen. Derzeit bin ich immer dienstags bis donnerstags in Brüssel. Ich verbringe praktisch den ganzen Tag im Gebäude des Europaparlaments. Die Frage mit meinen Mitarbeiter/innen kläre ich gerade, auf jeden Fall wird es in Brüssel jemanden geben und jemanden in Tübingen. Ich versuche darüber hinaus noch weiteres zu ermöglichen. Die Gegend um die Stadt Brüssel herum habe ich noch nicht gesehen, aber es soll sich lohnen.

Frage: Nun haben Sie ja auch schon einige Fraktionssitzungen hinter sich. Wie gestaltet sich denn die Arbeit mit Ihren PDS- Kolleg(inn)en? Wie wurden Sie als einziger Parteiloser aufgenommen? Wie groß ist der Delegations- bzw. Fraktionsdruck/-zwang? Wie ist die Zusammenarbeit mit den übrigen Fraktionsmitgliedern aus den unterschiedlichsten Ländern?

Die „Alten“ helfen beim „Einleben“ sehr gut, geben manche wertvollen Tipps. Die PDS-Delegation ist sich sehr genau bewusst, dass ich parteilos bin und dass sich deshalb manche Fragen bei mir anders stellen. So war am Anfang nicht vorgesehen, dass ich ebenfalls PDS- Landesverbände „betreue“. Nun betreue ich den ganzen Süden: Ba-Wü, Bayern, Rheinland-Pfalz und das Saarland. Einen Fraktions- oder Delegationszwang gibt es nicht. In der Delegation nehme ich aufgrund meines parteilosen Status eine Sonderrolle ein, so wird zwischen den sechs PDS-MdEP und den sieben MdEP der PDS-Delegation unterschieden. Bei den veröffentlichten Presseerklärungen und Artikeln wird darauf auch immer verwiesen.

Die Fraktion ist eine „konföderierte“, das heißt hier kann jede Delegation machen, was sie für richtig erachtet. Innerhalb der Delegation ist man/frau schon mehr aufeinander angewiesen, aber einen Zwang kann es nicht geben und vor allem nicht für mich als Parteilosen. Ich habe erst begonnen, Kontakte mit anderen Fraktionsmitgliedern aus anderen Ländern aufzubauen, zum Beispiel mit tschechischen, griechischen, niederländischen oder italienischen Kolleg(inn)en. Sprachbarrieren sind da bisher durchaus ein Problem. In der offiziellen Fraktionssitzung wird von den guten Dolmetscher/innen des Europaparlaments in 20 Sprachen simultan übersetzt, jede/r kann in seiner Muttersprache sprechen, aber die direkten Kontakte müssen natürlich in englisch oder französisch laufen, und das können nicht alle sehr gut sprechen.

Frage: Für welche Arbeitsgebiete haben Sie sich auf Parlaments-, Ausschuss-, Fraktions- und Delegationsebene entschieden? Haben Sie Ihre Wunschthemen bekommen?

Ich will bekanntlich in den Auswärtigen Ausschuss, die PDS-Delegation und ihr gerade gewählter Sprecher Helmuth Markov aus Brandenburg setzen sich dafür gut ein. Außerdem will ich Mitglied in der NATO- Delegation des EU-Parlaments werden. Das sind auch meine Themenbereiche in der PDS-Delegation: Außen-, Friedens- und Militärpolitik.

Selbstverständlich kümmere ich mich auch um den EU-Verfassungsentwurf und habe da schon für die Delegation gesprochen. Innerhalb der Fraktion GUE/NGL werde ich zudem mitarbeiten bei den Aktivitäten im Zusammenhang mit dem „Europäischen Sozialforum“ (ESF), das habe ich ja bisher auch schon außerparlamentarisch gemacht. Die Entscheidungen für die Ausschüsse fallen in dieser Woche, endgültig wird das in Strassbourg bei der konstituierenden Sitzung dann beschlossen.

Frage: Vom 20. bis 23. Juli ist die konstituierende Sitzung des Europaparlaments. Ist das ein besonderer Tag für Sie?

Schon, schließlich beginnt mit diesem Tag meine offizielle Mitgliedschaft im Europaparlament. Am 20. Juli habe ich – wie letztes Jahr – eine Einladung erhalten, auf den Protestveranstaltungen gegen das Gelöbnis in Berlin zu reden. Das würde ich sehr gerne tun, nur muss ich bei der konstituierenden Sitzung natürlich dabei sein. Dort werden dann der Parlamentspräsident und seine Stellvertreter/innen gewählt, die Ausschüsse und interparlamentarischen Delegationen ein- und zusammengesetzt, Berichte der bisherigen irischen und der jetzigen niederländischen Ratspräsidentschaft entgegengenommen und debattiert, ein Bericht des designierten Kommissionspräsidenten José Durao Barroso entgegengenommen. Der neue Kommissionspräsident wird dann vom Europaparlament bestätigt – oder eben auch nicht, wenn es nach mir, meiner Delegation und meiner Fraktion geht. Herr Barroso stellte sich im übrigen am Dienstag 13. Juli in der Fraktion GUE/NGL vor…

… Welchen Eindruck hat er auf Sie gemacht?

Er war persönlich freundlich und eloquent, allerdings stehen seine Positionen meinen bzw. denen meiner Fraktion diametral entgegen: In der für Europa so entscheidenden Frage von Krieg und Frieden hat sich Barroso als portugiesischer Ministerpräsident im Irakkonflikt auf die Seite der schlimmsten Kriegstreiber gestellt. Kurz vor Beginn des Angriffs auf den Irak hat er Bush, Aznar und Blair mit dem von ihm veranstalteten Azorengipfel die Möglichkeit gegeben, die Lügen über angebliche irakische Massenvernichtungswaffen erneut in die Weltöffentlichkeit zu bringen. Krieg ist für Barroso ausdrücklich ein legitimes Mittel der Politik. Mit ihm würde die Europäische Kommission einen Präsidenten erhalten, der als Unterzeichner des „Aufrufs der Acht“ vom 30. Januar 2003 eindeutig auf Krieg gesetzt hat. Barroso setzt auch eindeutig auf den Ausbau der neuen militärischen Komponenten der Europäischen Union, gegen seine Politik ist dringend Opposition notwendig.