Im Gespräch: Der Europaabgeordnete André Brie (PDS) über den Irak eine Woche vor Antritt der neuen Regierung
FREITAG: Sie waren mit dem Auto von Amman nach Bagdad unterwegs, auf einer Route also, auf der Anfang April zwei deutsche Sicherheitsbeamte ums Leben kamen. Was hat Sie bewogen, trotz des Risikos diesen Weg zu nehmen?
ANDRE BRIE: Ich wollte mir einfach ein authentisches Bild machen. Angst kann man nicht abstrakt haben. Ohnehin sollten wir vor allem nicht vergessen, dass Millionen Iraker unter diesen Bedingungen leben. Meine Erfahrung ist: man muss sehen, man muss erleben, um eine Situation beurteilen zu können. Übrigens war ich nicht nur in Bagdad, sondern auch in der Provinz Diala im Nordosten und im Süden des Landes.
Ist der Eindruck richtig, dass sich die Sicherheitslage vor dem 30. Juni – dem Antritt der Interimsregierung – extrem verändert hat?
Extrem verschlechtert. Auf der Rücktour bin ich 70 Kilometer vor der jordanischen Grenze zwei Stunden lang von US-Truppen aufgehalten worden. Als ich bei den Soldaten nachfragte, weshalb die Straße blockiert sei, hieß es, man habe zwei Bomben gefunden – daher sei alles gesperrt. Ich hörte in Bagdad mehrfach Explosionen und sah die Folgen. Dennoch waren das für mich sehr widerspruchsvolle Beobachtungen. Einerseits konnte ich alles, was jetzt im Irak geschieht, mit einer ungeheuren Direktheit zur Kenntnis nehmen und begreifen, wie nah man dem sein kann. Auf der anderen Seite habe ich immer wieder gesehen, dass die Iraker mit dieser Situation leben – dass es einen normalen Alltag gibt, mit Familie, Arbeit, Geschäften.
Wer steht nach Ihrem Eindruck hinter dieser Gewalt?
Eindeutig fundamentalistische und terroristische Kräften. Aber für die Opfer der vergangenen Tage – man denke an Falludscha – sind natürlich auch die US-Truppen verantwortlich. Ich bin an Falludscha vorbeigefahren, dass nach wie vor von hunderten US-Panzern und Posten eingekreist ist. Es gibt parallel dazu ein ungemein dramatisches Problem, das von den Medien völlig ausgeblendet wird. Ich habe darüber mit vielen Scheichs und Stammesältesten aus dem Süden gesprochen – einer Region, von der es immer heißt, dort sei vieles entspannter, weil die hier stationierten Briten eine sensiblere Politik betrieben als die Amerikaner. Gerade im Süden greift der Fundamentalismus mit einer alltäglichen Gewalt – vor allem gegen Frauen –um sich. Es gibt ständig Anschläge auf örtliche Autoritäten, wenn die sich dem islamistischen Diktat verweigern.
Wie äußerst sich Gewalt gegen Frauen konkret?
In einer katastrophalen Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse. Sie werden gedrängt, völlig verschleiert zu sein. Wer dem nicht folgt, kann auf offener Straße verhaftet werden, ohne dass irgendjemand einschreitet. Ladeninhaber, die Alkohol verkaufen oder Kosmetika für Frauen, werden massiv bedroht und gezwungen, ihre Geschäfte zu schließen. Das ist für mich ein Alarmsignal, das deutlich über den 30. Juni hinausweist.
Beschreiben Sie damit einen massiven schiitischen Fundamentalismus oder andere Strömungen?
In der Tat ist dafür vorzugsweise ein radikales Schiitentum verantwortlich, das offenbar durch das iranische Regime gefördert wird, aber seinen Einfluss nicht minder der Inkonsequenz und dem Desinteresse der Besatzungsmächte verdankt, die sich mit diesen Tendenzen überhaupt nicht befassen. Man darf zudem nicht übersehen, wie gravierend inzwischen die soziale Spaltung der irakischen Nachkriegsgesellschaft geworden ist.
Um noch einmal auf die lokalen Autoritäten zu kommen, von denen Sie sprachen. Wie reflektieren die ihre prekäre Lage?
Vorrangig als Erfahrung, allein gelassen zu sein. Ich habe das nicht nur von Leuten gehört, die in ihrer Stadt Kommunalpolitik machen wollen. Auch von Geistlichen, die eine differenzierte, antifundamentalistische Position haben – auch sie fühlen sich zunehmend bedroht.
Gibt es für diese Einschüchterung so etwas wie ein koordinierendes Zentrum, das unter Umständen auch den bewaffneten Widerstand zusammenführt?
Man muss hier sehr verhalten urteilen, aber soviel lässt sich sagen, und das wurde mir auch in etlichen Gesprächen bestätigt: Es gibt so etwas wie eine koordinierende Strategie für das Vordringen eines islamischen Fundamentalismus, der es versteht, die breite Unzufriedenheit und die Verletzung der nationalen Würde von sehr unterschiedlichen und dezentral agierenden Kräften zu kanalisieren. Deshalb ist auch die Forderung des designierten irakischen Ministerpräsidenten Ijad Allawi, eine Sondergerichtsbarkeit nebst Ausnahmerecht zu schaffen, um dem begegnen zu können, der völlig falsche Weg.
Welche Politik könnte hilfreich sein?
Der Irak braucht die volle Souveranität. Außerdem muss man dem Land helfen, sich wirtschaftlich aus eigenen Kräften wieder aufzurichten. In dieser Hinsicht bestehen die krassesten Defizite, weil alle diesbezüglichen Versprechen der USA nicht eingehalten wurden. Und man muss auf die demokratischen Kräfte setzen, da bin ich sehr ermutigt, weil es die tatsächlich gibt.
Um wen handelt es sich genau?
Ich rechne dazu auf jeden Fall die Stammeskräfte, die einen stabilen und demokratischen Staat wollen. Dazu gehört ein nicht unbeträchtlicher Teil der Geistlichkeit, nicht nur des sunnitischen, durchaus auch des schiitischen Klerus. Es gibt starke Frauenorganisationen, ein sich herausbildendes Parteiensystem mit liberalen oder demokratisch-monarchistischen Gruppierungen. So widerspruchsvoll das vielleicht für europäische Ohren klingen mag, es gibt auch linke Parteien im Irak, die sich durchaus landesweit etablieren. Gerade die demokratischen politischen Organisationen sind in der neuen Regierung unterrepräsentiert und werden nicht gefördert.
Wie sind die Reaktionen aus diesem Teil des politischen Spektrums auf die am 30. Juni antretende Interimsregierung?
Mir haben eigentlich alle gesagt, dass sie diese Regierung als Fortschritt gegenüber dem bisherigen Provisorischen Regierungsrat betrachten. Zugleich wurden die Defizite genannt: Es gibt keine wirkliche Souveränität – die USA haben weiter das Sagen, was diese neue Regierung nicht nur schwächt, sondern diskreditiert. Aber ich hörte immer wieder, die jetzige Regierung sei besser zusammengesetzt als der bisherige Regierungsrat …
…inwiefern?
Weil es sich alles in allem um ein repräsentativeres Gremium handeln würde, das mehr Politiker aus dem Lande selbst einbezieht und nicht nur Leute, die den USA genehm sind, weil sie mit dem amerikanischen oder britischen Geheimdiensten schon in der Zeit der Emigration kooperiert haben, aber den Irak gar nicht mehr kennen. Positiv sehen alle – auch schiitische Geistliche, die ich traf –, dass der Anteil von Frauen in der kommenden Regierung höher ist.
Dennoch folgt sie in ihrer Zusammensetzung insgesamt offenbar viel zu sehr formalen Kriterien, indem auf den Proporz zwischen sunnitischen, schiitischen, arabischen und kurdischen Vertreter geachtet wurde. Nur birgt dieser Formalismus eben auch die Gefahr des Separatismus, weil jene gesamtirakischen demokratischen Kräfte unterrepräsentiert sind, die eine Garantie dafür böten, das Land zusammenzuhalten.
In einer Erklärung zur Bildung dieser Regierung sagt nun aber die Irakische KP, dies sei ein historischer Wendepunkt und ein wichtiges Signal für ein Ende der Besatzung. Nachdem, was Sie bisher sagen, scheint das viel zu euphorisch.
Ob ich nun mit Gouverneuren, Bürgermeistern oder Stammesführern gesprochen habe – die waren in ihrem Urteil wesentlich skeptischer.
Woher resultiert nach Ihrem Eindruck die Bewertung der KP?
Da fällt gewiss das Prinzip Hoffnung stark ins Gewicht.
Sind allgemeine Wahlen Ende 2005 realistisch?
Man kann und muss sie abhalten, aber ob sie die Probleme des Landes lösen, ist sehr zweifelhaft. Auch das wurde mit von Politikern aus sehr unterschiedlichen Lagern erklärt: Der Fundamentalismus ist eindeutig auf dem Vormarsch. Er könnte aus möglichen Wahlen deutlich gestärkt hervorgehen. Da ist keine Absage an Wahlen, aber man braucht dafür ein ganz anderes Klima und demokratische Verhältnisse, die erst einmal geschaffen werden müssen. Das ist eine völlig ungelöste Frage. Sie zu lösen, wird derzeit auch nicht angestrebt.
Wie dachten die Iraker, die Sie treffen konnten, über den bewaffneten Widerstand, der Anschläge verübt, denen mehrheitlich Iraker zum Opfer fallen?
Es gibt sehr viel Unzufriedenheit mit der Besatzung, aber bei allen, mit denen ich sprach, war niemand, der dem Terrorismus mit Verständnis begegnete oder ihn gar gerechtfertigt hätte. Im Gegenteil, ich bin auf große Ablehnung gestoßen. Ich habe in Ahsraf, nordöstlich von Bagdad, vor fast 50.000 Menschen gesprochen. Und die Betonung von Menschenrechten, Demokratie und Zivilität in meiner Rede fand ein enormes Echo.
Das Gespräch führte Lutz Herden