»Chávez’ Sieg ist ein Signal über Venezuela hinaus«; Interview mit Sahra Wagenknecht in ‚Neues Deutschland‘ vom 17.08.04
Sahra Wagenknecht: Die direkte Demokratie stärkt das Politikinteresse der Bürger
Sahra Wagenknecht, PDS-Abgeordnete im Europaparlament, hält sich gegenwärtig als Mitglied einer Solidaritätsdelegation der Fraktion der Vereinigten Linken in Venezuela auf. Mit der Politikerin sprach für ND Martin Ling.
ND: Der venezolanische Präsident Hugo Chávez hat das Referendum gewonnen. Wie bewerten Sie das Ergebnis?
Wagenknecht: Das Resultat und vor allem auch die außerordentlich hohe Zustimmung unter der armen Bevölkerung für Chávez zeigen deutlich, dass seine Politik von denen angenommen wird, für die sie gemacht wird. Die Menschen spüren, dass hier erstmals eine Regierung sich wirklich für sie engagiert. Erstmals kommen die Öleinnahmen dieses ressourcenreichen Landes sozialen Programmen, einer Bildungs- und Gesundheitsreform zugute und verschwinden schwinden nicht in den Taschen der reichen Oberschicht.
Sehen Sie in dem Sieg von Chávez ein über Venezuela hinaus gehendes Signal?
Auf alle Fälle. Wer die Alternative Chávez wählt, wählt eine Alternative zum Neoliberalismus und das ist sicher auch ein Signal für andere lateinamerikanische Länder. Es geht auch uns in Europa an, wo uns täglich eingeredet wird, im Zeitalter der »Globalisierung« gäbe es keine Alternative mehr.
Die EU-Kommission spricht von einem Sieg der Demokratie und zeigt sich sehr angetan vom friedlichen Verlauf und der hohen Wahlbeteiligung. Überrascht Sie das?
Das war nicht unbedingt zu erwarten, ist aber natürlich erfreulich. Es wird Zeit, dass die Europäische Kommission einsieht, dass es Chávez ist, der für den demokratischen Weg in Venezuela steht, während die Opposition alle möglichen Wege versucht hat – Putsch, Sabotage, Wahlbetrug – nur nicht den der Demokratie. Auch das Referendum wurde ja nur durch die neue Verfassung möglich. In Europa gibt es kein Land, in dem der Staatschef nach der Hälfte der Amtszeit vom Volk abberufen werden kann. Diese direkte venezolanische Demokratie hat auch dazu geführt, dass die Leute so politisiert sind. Sie sind in Entscheidungen einbezogen und wollen dieses Recht deshalb auch wahrnehmen, während in Europa die Wahlurnen von Wahl zu Wahl mehr verwaisen. Wahlabstinenz entsteht dann, wenn die Menschen das Gefühl haben, sie könnten sowieso nichts entscheiden. Das ist in Venezuela anders.
Überrascht Sie der relativ friedliche Verlauf?
Erst einmal ist es tatsächlich sehr gut, dass alles friedlich verlaufen ist bis jetzt. Ich hoffe, das bleibt auch so. Das hängt natürlich sehr davon ab, wie sich die Opposition verhält.
Die Opposition hat nun ihre dritte schwere Niederlage erlitten. Nach dem Putschversuch im April 2002 und dem gescheiterten Generalstreik 2002/2003. Wird sie jetzt klein beigeben?
Das ist leider unwahrscheinlich. Schließlich hat die Opposition bereits vor Verkündung des Wahlergebnisses gesagt, dass sie das Ergebnis wegen angeblicher Verzerrungen nicht anerkennen wolle. Mit dieser Auffassung steht sie zwar allein, da selbst das sonst oppositionstreue Carter-Center des ehemaligen USA-Präsidenten Jimmy Carter bisher am Verlauf nichts auszusetzen hatte. Aber damit wächst wieder die Gefahr von Gewalt. Ob die Oppositionskräfte das klare Votum am Ende doch akzeptieren, wird auch davon abhängen, wie viel Rückhalt sie international für einen Konfrontationskurs finden.
Die Achillesferse der bolivarianischen Revolution könnte in der einseitigen Abhängigkeit der Wirtschaft vom Erdöl liegen. Hat die Regierung überhaupt die Kraft und die Möglichkeit, in der poIarisierten Situation eine Neustrukturierung der Wirtschaft vorzunehmen und sie auf ein breiteres Fundament zu stellen?
Die Einnahmen der staatlichen Ölindustrie werden in den Ausbau des Bildungssystems und in soziale Programme umgeleitet. Durch diese Umverteilung von Einkommen entsteht kaufkräftige Nachfrage. Dadurch wird die lokale Wirtschaft – jenseits des Ölsektors – gestärkt. Der Umbau wird allerdings durch die ständigen Sabotageversuche des nach wie vor einflussreichen Privatsektors erschwert. Etwa durch den so genannten Ölstreik 2002/2003, der das venezolanische Pro-Kopf-Einkommen massiv einbrechen ließ. Jetzt geht es zwar wieder aufwärts, aber der Rückschlag wirkt immer noch nach.
Umverteilt werden kann nur das, was vorher erwirtschaftet wurde. Welche Ansätze gibt es jenseits des Ölsektors?
Es gibt die Landreform. Ungenutzter Großgrundbesitz soll enteignet werden, Kooperativen – auch außerhalb der Landwirtschaft – werden mit verbilligten Krediten gefördert. Es gibt den staatlichen Lebensmittelhandel Mercal. Natürlich existiert noch kein fixes Programm für die nächsten zehn Jahre. Das wäre auch kaum möglich. Die Prioritätensetzung ist aber deutlich anti-neoliberal und in mancher Hinsicht auch anti-kapitalistisch. Meines Erachtens wird sie letztlich auch zu wirtschaftlichem Wachstum und besseren Lebensverhältnissen für die Menschen führen.
Infos zu Venezuela unter www.venezuela-avanza.de
(ND 17.08.04)
Quelle:
Neues Deutschland, 17.08.04