Brüsseler Spitzen – Das Europaparlament muss handeln, erschienen in der Tageszeitung „Neues Deutschland“ vom 16. April 2004
In Brüssel herrscht helle Aufregung; viele Abgeordnete sind schockiert. Der Grund: Ein Kollege, der Österreicher Hans-Peter Martin, wirft ihnen „Missbrauch“, ja „Betrug“ bei der Inanspruchnahme von Tagegeldern vor. 7200 Fälle will er seit 2001 insgeheim ermittelt haben – mit versteckter Kamera, Kontrollanrufen und ähnlichen Mitteln. Auch deutsche Abgeordnete aller Parteien werden beschuldigt. „Bild-Zeitung“ und „Stern-TV“ berichten über EU-Abgeordnete, die angeblich kaum arbeiten, dafür aber um so kräftiger „abzocken“. Obwohl klargestellt wurde, dass Tagegelder weder Sitzungsgelder noch zusätzliches Einkommen sind, sondern Kosten für auswärtige Lebensführung in Brüssel, Straßburg und bei Dienstreisen in der EU ausgleichen sollen, hören die Vorwürfe nicht auf. Bis zu den Europawahlen im Juni ist überdies noch viel Zeit für weitere „Enthüllungen“. Der irische Parlamentspräsident Pat Cox warnte deshalb eindringlich davor, Abgeordneten durch nicht bewiesene Behauptungen eine Kollektivschuld aufzubürden und die Integrität des Europäischen Parlaments zu beschädigen. Fraktionsübergreifend erging die Forderung an das Präsidium sowie an den Europäischen Rechnungshof und die Betrugsbekämpfungsstelle „Olaf“, noch bis zu den Wahlen jeden einzelnen Vorwurf zu prüfen, ob tatsächlich Regelverletzungen vorliegen. Nur so kann das Vertrauen der Öffentlichkeit wiederhergestellt werden.
Das Europaparlament konnte deshalb ins Zwielicht geraten, weil einige finanzielle Regelungen in der Tat Grauzonen enthalten. So sollte – wie das bei den PDS-Abgeordneten üblich ist – verboten werden, Familienangehörige als Mitarbeiter einzustellen. Die Inanspruchnahme von Tagegeldern muss gerechtfertigt sein und sollte exakter kontrolliert werden. Auch die pauschale Abrechnung der Reisekosten ist sehr problematisch, weshalb sich unsere Fraktion mehrfach dafür eingesetzt hat, nach den tatsächlichen Kosten abzurechnen. Um diese Grauzonen umgehend auszuräumen, habe ich gemeinsam mit allen Sprechern bzw. Spitzenkandidaten der anderen im Europaparlament vertretenen deutschen Parteien eine entsprechende Erklärung unterzeichnet, die diese Forderungen enthält.
Das Hauptproblem ist jedoch, dass das Europaparlament bis heute über kein offizielles Statut für seine Mitglieder verfügt – das heißt, über ein Abgeordnetengesetz und eine für alle gleichermaßen geltende Regelung über die Höhe der Diäten. Es ist doch nicht einzusehen, dass ein Abgeordneter aus Italien monatlich fast 8000 Euro mehr verdient als sein spanischer Kollege. Die Verantwortung dafür tragen die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten. Sie vermochten sich bisher nicht über die Höhe einheitlicher Diäten und darüber zu einigen, ob sie künftig aus dem EU-Haushalt oder wie bisher aus den nationalen Haushalten finanziert werden. Auch ihre Einkommensbesteuerung ist strittig. Das ist umso unverständlicher, da alle in Brüssel oder Luxemburg tätigen Beamten und Mitarbeiter von EU-Institutionen egal welcher Nationalität einheitlich aus dem EU-Haushalt bezahlt werden.
Das Europaparlament hatte im Juni vergangenen Jahres gemäß Artikel 190 EG-Vertrag den Vorschlag für ein neues Abgeordnetenstatut unterbreitet, das jedoch Anfang 2004 durch den EU-Ministerrat zu Fall gebracht wurde. Maßgeblich war das Veto aus Berlin. Den Anstoß dafür gab allerdings eine hier zu Lande äußerst populistisch geführte Debatte. Dabei traten die eigentlichen Probleme in den Hintergrund – wie zum Beispiel der Konflikt zwischen dem Prinzip „Gleiches Geld für gleiche Arbeit“, das für einheitliche Diäten spricht, und den unterschiedlichen Einkommensverhältnissen in den EU-Mitgliedstaaten, die nach dem EU-Beitritt der mittelosteuropäischen Staaten noch gravierender werden.
Es schadet der Demokratie in Europa, wenn die einzige demokratisch gewählte EU-Institution mit Negativschlagzeilen aufwartet. Davon profitieren ausnahmslos Integrationsgegner und nationalistische Akteure. Auch einige Regierungen sehen das EU-Parlament lieber geschwächt als gestärkt. Ihnen allen dürfte es durchaus gelegen kommen, wenn es, wie jetzt unmittelbar vor den Europawahlen geschehen, einen Dämpfer erhält. Deshalb muss das Europaparlament handeln. Es muss gleich zu Beginn der nächsten Legislaturperiode einen neuen Vorstoß unternehmen und ein akzeptables Abgeordnetenstatut vorlegen. Dafür wird sich die neue PDS-Gruppe im Europaparlament entschieden engagieren. Das Statut muss transparent sein, denn Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht darauf zu erfahren, wie mit öffentlichen Geldern umgegangen wird.
Sylvia-Yvonne Kaufmann (PDS) ist Vizevorsitzende der linken Fraktion im Europaparlament.