Kommt jetzt die große Krise der EU?
Die Verabschiedung eines Verfassungsvertrages für die Europäische Union ist gescheitert – vorerst, sollte man aber unbedingt hinzufügen. Kaum jemand unter den politischen Eliten, die dieses Projekt in den vergangenen Jahren vorangetrieben haben, denkt nämlich im Ernst daran, jetzt, so dicht vor dem Ziel, aufzugeben. Die dunklen Ankündigungen von Chirac und Schröder über einen möglichen Strategiewechsel hin zu einer kerneuropäischen Integration weniger Staaten sollten eher als Aufstellung einer Drohkulisse bewertet werden. Hierzu gehört auch die vorgesehene Kürzung des EU-Haushaltes, den die sechs Nettozahlerländer wohl nicht ganz zufällig nur zwei Tage nach dem gescheiterten Gipfel ankündigten. Rechtzeitig vor Beginn der Finanzverhandlungen der Union sollen den beiden widerspenstigen Ländern Polen und Spanien schon einmal „die Instrumente gezeigt“ werden.
So hat, nach Überwindung einer kurzen Schockphase, längst die Schadensbegrenzung begonnen. Im Europäischen Parlament forderten gemeinsam Konservative, Sozialdemokraten, und Grüne, dass bereits von der irischen Präsidentschaft konkrete Schritte unternommen werden, damit doch noch rechtzeitig vor den Europawahlen im Juni 2004 die Verfassung fertig auf dem Tisch liegt. Es lohnt daher, sich in dieser Situation noch klar zu machen, warum das ehrgeizige Projekt der Ausarbeitung einer Verfassung überhaupt angepackt wurde, und weshalb es, selbst nach dem Rückschlag von Brüssel, nicht so einfach aufgegeben werden wird.
Warum überhaupt eine Europäische Verfassung?
Eine Antwort auf die Frage, weshalb und warum gerade jetzt die Union eine Verfassung braucht, ist gar nicht so einfach zu geben. In der bald fünfzigjährigen Geschichte der europäischen Integration ist man schließlich auch ohne eine solche Urkunde ausgekommen. Auch gibt es die Ansicht, dass die EU eine solche Verfassung längst besitzt, und zwar schon von ihrer Gründung an. Zu denken geben muss vor allem, dass erst vor gut zehn Jahren mit dem Vertrag von Maastricht die Europäische Union gegründet wurde. Und ganz ähnlich wie in der gegenwärtigen Verfassungsdiskussion, wurde schon damals von einer epochalen Wende im Integrationsprozess gesprochen. Im Artikel 1 des Vertrages über die Europäische Union von 1993 heißt es seitdem: „Dieser Vertrag stellt eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker dar, in der die Entscheidungen möglichst offen und möglichst bürgernah getroffen werden.“
Es ist danach zu fragen, was sich in den vergangenen zehn Jahren so dramatisch verändert hat, dass man nun von einem „Nachdenken über die Finalität des europäischen Einigungsprozesses“ meint sprechen zu müssen?
Zu den Hintergründen der Verfassungsdiskussion
Die wirklichen Gründe für das Aufkommen der Verfassungsdebatte am Ende der neunziger Jahre finden sich zum einen in der Ungewissheit um den Erhalt der Funktionsfähigkeit der Union in einem erweiterten Staatenbündnis der 25 und zum anderen in der Sorge um die zusehends geringer werdende Akzeptanz der EU bei den Bürgerinnen und Bürgern.
In Deutschland, dem Land also von dem die Verfassungsdebatte ihren Ausgang nahm, hatte 1995 eine Kommission unter dem Vorsitz von Werner Weidenfeld einen Bericht vorgelegt, der sich mit der Reform des Vertrags von Maastricht beschäftigte. In den Schlussfolgerungen hieß es, dass eine Vertiefung der EU-Integration auf dem Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion, aber auch durch eine gemeinschaftliche Sozial- und Umweltpolitik sowie durch einen Ausbau der Bürgerrechte und der Kompetenzen weder bei der deutschen Regierung noch bei denen der großen Partnerländer in der EU an der Spitze der politischen Agenda stehe. „Die Kommission plädiert für eine klare Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Brüssel und den Nationalstaaten (Kompetenzkatalog). Das Subsidiaritätsprinzip muss konsequenter angewandt werden. (…) Kooperationsbedarf besteht dagegen in den Bereichen Außen-, Sicherheits- und Innenpolitik. (…) Der Primat der Außen- und Sicherheitspolitik, der nunmehr für die Europapolitik eingefordert wird, verdrängt nicht allein die sogenannten weichen Politikfelder wie z.b. die Sozial- und Ökologiepolitik sowie die Fragen der weiteren Demokratisierung und Gleichstellung, sondern impliziert (und intendiert) eine Aufwertung der nationalstaatlichen Politik- und Kooperationsebene in der europäischen Politik.“ Vergleicht man diese Schlussfolgerungen der Kommission von 1995 mit den im Juli 2003 vorgelegten Vorschlägen des Konventsentwurfs, so wird man eine ganze Reihe von Übereinstimmung finden. Vieles von dem, was heute unter dem großen Wort von einer „Neugründung Europa“ beschworen wird, war damals bereits angedacht worden.
Der Verfassungsprozess als eine Antwort auf den Legitimationsverlust der Europäischen Union
Die Ausgangslage am Beginn der Verfassungsdiskussion kann daher als eine defensive beschrieben werden. In der Zeit nach der Verabschiedung des Vertrages von Maastricht hatte sich in der politischen Öffentlichkeit ein allgemeiner Vertrauensverlust gegenüber dem europäischen Einigungsprozess gezeigt. Es war offenkundig geworden, dass mehr Wettbewerb, Deregulierung und forcierte Privatisierungen bislang öffentlicher Dienstleistungen ohne jegliche sozialstaatliche Abfederung auf europäischer Ebene stattfanden. Als erster sichtbar gewordener Ausdruck dieser auch „Post-Maastricht-Krise“ genannten Stimmungslage gelten das dänische Nein vom Sommer 1992 zum Vertrag von Maastricht und das nur denkbar knappe Ja zu dem Maastricht-Vertrag im französischen Referendum im Herbst dieses Jahres. Dazu gehört ebenso der negative Ausgang des Referendums in Norwegen über den Beitritt zur Europäischen Union und das knappe Nein der Schweiz zum Beitritt in den Europäischen Wirtschaftsraum im Dezember 1992. Schließlich wurden die europäischen Eliten von der völlig überraschenden Ablehnung des Nizza-Vertrages durch die irische Bevölkerung bei der ersten Abstimmung 2001 überrascht. Mit dem klaren Nein der Schweden zur Einführung des Euro im September 2003 scheint sich dieser Trend fortzusetzen: Fast überall dort, wo Referenden zu europäischen Fragen stattfinden, enden sie mit Niederlagen der Verfechter einer schnelleren Integration. Daran ändert auch die unbestreitbare Tatsache nichts, dass natürlich in all diese Abstimmungen nationale Stimmungen und Befindlichkeiten immer mit einfließen. Lediglich die zweite Abstimmung der irischen Bevölkerung über den Vertrag von Nizza stellte eine Ausnahme dieses Trends dar. Aber gerade diese zweite Abstimmung hinterließ einen bitteren Nachgeschmack, musste doch der Eindruck entstehen, dass bei Widerwilligkeit notfalls eben so lange abgestimmt wird, bis das Ergebnis passt. Diese Erfolglosigkeit bei der Durchsetzung der gegenwärtigen europäischen Politik mit Hilfe von Referenden ließ die meisten EU-Regierungen gegenüber den Forderungen nach Volksabstimmungen über eine europäische Verfassung auf Abstand gehen. Es zeigt sich: Die schwindende Akzeptanz in der Bevölkerung gegenüber dem gegenwärtigen europäischen Integrationskurs ist zu einem ernsthaften Hindernis für den Aufbau einer neoliberal ausgerichteten und mit militärischen Kapazitäten ausgestatteten Weltmacht Europa geworden.
Ausdruck dieser schwindenden Akzeptanz war ebenso die geringe Beteiligung an den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 1999. Sie waren gekennzeichnet von Desinteresse und Resignation angesichts einer durch Wahlen offensichtlich nicht zu beeinflussender Entwicklung. In fast allen Mitgliedsländern ging die Beteiligung zurück, in machen fiel sie gar dramatisch. Sie verringerte sich in Finnland von 60 Prozent auf 30, in Österreich von 68 auf 49, in Deutschland von 60 auf 45 und in Großbritannien von 36 auf 24 Prozent. Damit lag Großbritannien bei der Wahlbeteiligung am Ende der Statistik. Der Präsident des Europaparlaments, Pat Cox, will sogar herausgefunden haben, dass sich „in Großbritannien mehr Menschen an den Big-Brother-Abstimmungen beteiligt haben als an der Europawahl“. In anderen Ländern blieb die Beteiligung auf einem schon zuvor erreichten niedrigen Niveau: In den Niederlanden bei 30, in Schweden bei 38 und in Portugal bei 40 Prozent. Nur in Irland und Spanien beteiligten sich 1999 mehr Bürgerinnen und Bürger als fünf Jahre zuvor. Insgesamt ging die Wahlbeteiligung von 57 Prozent im Jahr 1994 auf 49 Prozent zurück. Bei den ersten Direktwahlen zum Europäischen Parlament 1979 hatte sie noch bei 63 Prozent gelegen.
Nicht wenige der verbliebenen Wähler gaben ihre Stimmen europakritischen Parteien. In Großbritannien errangen die jede weitere Integration strikt ablehnenden Konservativen eine deutliche Mehrheit über die erst zwei Jahre zuvor bei Unterhauswahlen erfolgreiche Labour Party. Selbst die offen europafeindliche UK-Independence Party brachte drei Kandidaten durch. In Frankreich spaltete sich die Rechte über die Haltung zu Europa. Das gegen eine weitere Integration eingestellte Parteienbündnis trug dabei den Sieg davon. Und die extreme französische Rechte unter Le Pen war vor allem dort erfolgreich, wo sich beim Referendum 1992 die Mehrheit gegen Maastricht ausgesprochen hatte. In Dänemark profitierten die Euroskeptiker der „Junibewegung“ von der europakritischen Grundströmung. In vielen Ländern waren populistische Politiker erfolgreich. In Frankreich trat unter dem Namen „Jagd, Fischen, Natur, Tradition“ eine Liste an, deren einziges Thema der Kampf gegen europäische Regelungen in den Bereichen der Jagd und des Fischens war. Dies allein reichte, um nicht weniger als sechs Abgeordnete nach Straßburg schicken zu können.
Mit der Ausarbeitung einer Verfassung sollte auch eine Antwort auf diese wachsende, unbestimmte Kritik an „zuviel Bürokratie“ und an der „Lebensferne Europas“ gegeben werden. In der Erklärung des Europäischen Rates von Laeken vom Dezember 2001, mit der die Grundlage für die Arbeit des Europäischen Konvents gelegt wurde, heißt es selbstkritisch: „In der Union müssen die europäischen Organe dem Bürger näher gebracht werden. Die Bürger stehen zweifellos hinter den großen Zielen der Union, sie sehen jedoch nicht immer einen Zusammenhang zwischen diesen Zielen und dem täglichen Erscheinungsbild der Union.“ Die Interessen dieser Bürger werden dann wie folgt interpretiert: „Kurz, der Bürger verlangt ein klares, transparentes, wirksames, demokratisch bestimmtes gemeinschaftliches Konzept, – ein Konzept, das Europa zu einem Leuchtfeuer werden lässt, das für die Zukunft der Welt richtungweisend sein kann, ein Konzept, dass konkrete Ergebnisse zeitigt, in Gestalt von mehr Arbeitsplätzen, mehr Lebensqualität, weniger Kriminalität, eines leistungsfähigen Bildungssystems und einer besseren Gesundheitsfürsorge. Es steht außer Frage, dass Europa sich dazu regenerieren und reformieren muss.“ (…) Als erstes stellt sich die Frage, wie wir die demokratische Legitimierung und die Transparenz der jetzigen Organe erhöhen können?
Die mit dem Verfassungsentwurf vorgelegten Vorschläge zur Verbesserung der Transparenz und zur dringend notwendigen Demokratisierung der EU sind aber enttäuschend ausgefallen. Ohne Zweifel ist der Verfassungsvertrag übersichtlicher, klarer gegliedert und damit sehr viel lesbarer als etwa der EG-Vertrag, der als Gründungsvertrag nur immer wieder erneut geändert und dabei immer verworrener wurde. Mit der Integration der bereits vorher ausgearbeiteten Grundrechtecharta wird der bestehende Grundrechtsschutz in der Union sichtbar gemacht und verstärkt. Der Bereich, in dem zukünftig mit qualifizierten Mehrheiten entschieden werden soll, wird erweitert. Damit erhält das Europäische Parlament mehr Mitentscheidungsrechte. Es bekommt aber weder das Recht, den Präsidenten der Europäischen Kommission wirklich zu wählen, denn es kann nur einem vorher vom Rat unterbreiteten Vorschlag akzeptieren oder ablehnen, und es erhält auch kein eigenes Initiativrecht. Es bleibt damit auch weiterhin weit von der Funktion eines wirklichen Parlaments entfernt.
Zugleich verstärkt aber der Konventsentwurf die bereits jetzt bestehende Tendenz zur Zentralisierung und Straffung der Gremien und – ganz im Sinne der Forderungen der Weidenfeld-Kommission von 1995 – die intergouvermentale Kooperation. So soll es einen europäischen Außenminister geben, der zugleich dem Rat und der Kommission angehört (sogenannter „Doppelhut“). Die bislang unter den Mitgliedstaaten halbjährlich rotierende Präsidentschaft wird abgeschafft und dafür das Amt eines ständigen Ratspräsidenten eingerichtet. In der auf 15 Mitglieder verkleinerten Kommission werden demnach zukünftig nicht mehr alle Staaten gleichzeitig vertreten sein. Der Kommissionspräsident erhält das Recht die Richtlinien zu bestimmen als Kommissare zu entlassen. Im innenpolitischen Bereich wird Europol zu einer Unionseinrichtung und in der Verteidigungspolitik wird eine Rüstungsagentur gegründet. In einer ganzen Reihe von Bereichen bleibt der Rat gleichzeitig sowohl Gesetzgebungsorgan als auch Kontrollbehörde. Mit rechtsstaatlichen Prinzipien traditioneller Gewaltenteilung hat dies alles weiterhin wenig zu tun. Die dringend notwendige, grundlegende Demokratisierung der Union wird daher auch der Verfassungsentwurf nicht bringen.
Obwohl der Konvent nach der Erklärung von Laeken eigentlich nicht die Aufgabe hatte, inhaltliche Veränderungen an den Verträgen vorzunehmen, hat er dies zumindest in den Bereichen Außen- und Sicherheitspolitik und Innen- und Rechtspolitik getan. In der Außen- und Sicherheitspolitik wird der seit dem Gipfel von Köln eingeschlagene Kurs des Aufbaus eigener europäischer militärischer Kapazitäten mit dem Entwurf fortgesetzt. In Artikel I-40 wird gar gefordert, dass sich „die Mitgliedstaaten verpflichten, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu erhöhen“ In Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik werden die geltenden Vertragsbestimmungen wiederaufgenommen, was aber nichts anderes heißt, als dass die neoliberalen Bestimmungen des Maastricht-Vertrages nun in den Rang einer Verfassung gehoben werden.
Die Erweiterung als Herausforderung an die institutionelle Ordnung der EU
Die Absicht, auf wachsende Legitimationsprobleme und auf die Kritik an dem Demokratiedefizit der Union zu reagieren, war nur der eine – mehr nach außen gerichtete – Begründungsstrang für die Verfassungsdiskussion. Ein zweiter ergab sich aus der Notwendigkeit einer Anpassung der Institutionen an die Bedingungen einer um nicht weniger als zehn Staaten vergrößerten Union: „Mit Blick auf die bevorstehende Erweiterung der EU von 15 auf 25 und mehr Staaten war in den neunziger Jahren klar geworden, dass die große gesamteuropäische Union des 21. Jahrhunderts einer neuen verfassungsmäßigen Ordnung bedürfe, um handlungsfähig zu bleiben.“ Hinter dieser, immer wieder beschworenen Warnung vor einer drohenden Handlungsunfähigkeit der erweiterten EU steht aber auch die Befürchtung der großen Staaten, dass sich durch ein Anwachsen allein der Zahl der Mitgliedstaaten um viele kleinere und mittlere Länder ihr relatives Gewicht in der Union verringern könnte.
Und die Zeit zur Anpassung drängte. Bereits 1998 waren Beitrittsverhandlungen mit einer ersten Gruppe von sechs Ländern aufgenommen wurden, ab Februar 2000 kamen weitere sechs dazu. Um die EU-Institutionen auf diese größte Erweiterung in der Geschichte der Union vorzubereiten, begann am im Februar 2000 eine Regierungskonferenz, die sich auf drei Ziele konzentrierte: Festlegung der künftigen Größe der Europäischen Kommission, Reform der Stimmenverteilung im Rat und Ausweitung des Bereichs von Mehrheitsentscheidungen im Rat. Es handelte sich dabei um die sogenannten „left-overs“, jener mit dem Vertrag von Amsterdam 1997 nicht geregelten Fragen. Vergleicht man nun diese damals offenen Fragen mit den Streitpunkten, die auf dem Europäischen Rat am 12. und 13. Dezember 2003 verhandelt wurden, so wird klar, dass es fast sieben Jahre später immer noch um genau die gleichen ungelösten Fragen ging.
Es geht um die Macht in der erweiterten Union
Ein erster, 1997 in Amsterdam unternommener Versuch einer Neuordnung der institutionellen Architektur war nicht erfolgreich. Seitdem existieren die sogenannten „Left-overs“ von Amsterdam. Sie bestehen aus den drei bis heute nicht zufriedenstellend gelösten Fragen: Der Neufestlegung der Größe der Europäischen Kommission, einer neuen Stimmengewichtung im Europäischen Rat und der deutlichen Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen. Hinzu kam die Aufgabe einer neuen Sitzverteilung im größer werdenden Europäischen Parlament.
Mit dem Gipfel von Nizza im Dezember 2000 wurde ein neuer Anlauf unternommen. Es gelang eine Einigung über die Neuverteilung der Sitze im Europäischen Parlament: Deutschland behält danach seine 99 Parlamentarier, die aller anderen Mitgliedstaaten der alten Union verringern sich. Einen Durchbruch erzielte die Bundesrepublik mit der erstmaligen Berücksichtigung des demografischen Faktors bei Abstimmungen im Rat. Dies bedeutet, dass ein Ratsbeschluss zukünftig angefochten werden kann, wenn er nicht mindestens 62 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentiert.
Weniger erfolgreich war die BRD hingegen bei der Neufestlegung der gewichteten Stimmen im Rat. Zwar wurde in Nizza der Einfluss der bevölkerungsstarken Staaten vergrößert, doch Frankreich beharrte darauf, mit 29 Stimmen gleich viel wie Deutschland zu erhalten. Ebenfalls 29 bekamen Italien und Großbritannien. Polen und Spanien wurden je 27 Stimmen zugestanden.
Was hätte sich bei der Annahme des Konventsvorschlags zur Stimmengewichtung verändert?
Sollte allein die Bevölkerungszahl, wie es der Konventsentwurf in seinem Artikel 24 vorsieht, als entscheidendes Kriterium an die Stelle der gewichteten Stimmen treten, so würden sich die Machtverhältnisse unter den Staaten erheblich verschieben. Begünstigt wären davon die vier bevölkerungsstärksten Länder. Da gegenwärtig diese vier Länder, Frankreich, Großbritannien, Italien und Deutschland, jeweils 29 Stimmen im Rat haben, beträgt ihr prozentualer Anteil an den Gesamtstimmen nur jeweils 8,4 Prozent. Ganz anders sähe es hingegen aus, wenn die Bevölkerungszahl zu dem entscheidenden Kriterium wird. Danach würde sich der Anteil allein von Deutschland glatt auf 17 Prozent verdoppeln, diejenigen von Frankreich, Großbritannien und Italien immerhin noch auf jeweils ca. 12 Prozent erhöhen. Da sich die Anteile von Spanien und Polen hingegen nur geringfügig von 7,8 auf 8 Prozent vergrößern, ginge ihr Einfluss zurück. Dies ist der Grund für ihren hartnäckigen Widerstand gegen die vom Konvent vorgeschlagenen veränderten Abstimmungsregeln.
Betrachtet man nun die möglichen Rückwirkungen dieser Konventsvorschläge auf denkbare Konstellationen bei Koalitionsbildungen im Rat, so ist bereits auf einen Blick erkennbar, dass die vier Großen mit zusammen 53 Prozent fast die erforderliche Mindestzahl von 60 Prozent erreichen. Nun muss aber noch das zweite Kriterium, die Mehrheit der Mitgliedstaaten, hinzukommen. Hier hat jeder Staat nur eine Stimme, egal ob es sich um Malta oder um Deutschland handelt. Da die großen Staaten nur noch wenige Bündnispartner zum Erreichen der 60 Prozentschwelle bei der Bevölkerungszahl brauchen, werden sie freier bei ihrer Bündniswahl zum Erreichen einer Mehrheit von Mitgliedstaaten. Eine Koalition von vier großen selbst mit einer Reihe sehr kleiner Staaten könnte bereits reichen. Mit dem Konventsentwurf steigt daher die Bedeutung der kleinen Staaten, denn sie werden bei der Herstellung der einfachen Mehrheit der Mitgliedstaaten, die zukünftig bei 13 liegt, dringend gebraucht. Verlierer wären die mittelgroßen Staaten, neben Polen und Spanien die Niederlande aber auch Staaten mit jeweils rund 10 Millionen Einwohner, wie Belgien, Griechenland, Portugal und die Tschechische Republik. Da ihr Gewicht bei Abstimmungen im Rat auf Grundlage der Bevölkerungsgröße zurückgeht, würde ihre Bedeutung als Bündnispartner geringer werden.
Unterscheidet man bei möglichen Mehrheiten zwischen alten und neuen Mitgliedstaaten, also zwischen der EU-15 und der zukünftigen EU-25, so können die alten Länder nach den Vereinbarungen von Nizza ihre Mehrheit in einer erweiterten Union noch gerade so halten. Kommen aber Bulgarien und Rumänien (EU-27) dazu, und dies ist für 2007 zu erwarten, so wäre sie bereits verloren. Wird auch noch die Türkei (EU-28) Mitglied, so hätten die gegenwärtigen EU-Länder keine Gestaltungsmehrheit mehr. Die neuen Mitglieder hingegen würden die ihnen jetzt mögliche Sperrminorität nach dem Verfassungsentwurf verlieren. Weder in einer EU der 25, noch der 27 oder der 28 würden sie darüber verfügen.
Die Abstimmungsregelungen sind für die politischen Auseinandersetzungen in der EU von entscheidender Bedeutung, insbesondere bei der Ausfechtung anstehender Verteilungskonflikte. Dies gilt sowohl für die Neuordnung der Gemeinsamen Agrarpolitik als auch für die Zukunft der Regional- und Strukturfonds. Verlieren die neuen Mitgliedstaaten ihre Sperrminorität, so wird es für sie sehr viel schwerer werden, ihre Interessen zur Geltung zu bringen. Die von Transferleistungen der Union im besonderen Maße abhängigen Kohäsionsländer (Spanien, Griechenland, Portugal, Irland und bald die mittel- osteuropäischen Länder) verfügen nach der geltenden Nizza-Regelung in der EU-25 über eine Sperrminorität, nach der vom Konvent vorgeschlagenen Regelung würden sie sie hingegen verlieren.
Es geht um den zukünftigen Kurs der EU
Die jetzt zu Tage getretene Krise der Union reflektiert die mit der Erweiterung dramatisch wachsenden ökonomischen und sozialen Gegensätze in der Union. Der Widerstand gegen eine veränderte Stimmenverteilung ist Ausdruck der in den ärmeren Ländern fest verankerten und durchaus begründeten Überzeugung, nur auf Grundlage einer starken eigenen nationalen Position bei den anstehenden Verteilungskämpfen überhaupt bestehen zu können. Davon lassen sich vor allem die neu hinzukommenden Länder Mittelost- und Osteuropas leiten. Und da die südeuropäischen Länder angesichts der neuen Konkurrenz aus dem Osten um ihre in der EU mühsam errungenen Positionen fürchten, gibt es in den Fragen der Abstimmungsregelungen eine gemeinsame Haltung von Süden und Osten. Bei den kommenden Konflikten um Agrar- und Strukturfondsmittel werden hingegen die jetzt noch Seite an Seite stehenden Polen und Spanier bald wieder Gegner sein.
Die gegenwärtige Krise wirft die Frage auf, ob der bisherige Weg der Union als eine im Kern auf den Binnenmarkt beschränkte Integration überhaupt weiter beschritten werden kann. Sehr viel stärker als bisher muss das Prinzip der Solidarität in den Mittelpunkt rücken. Dies verlangt deutlich höhere Transferleistungen vor allem zugunsten der mittel- und osteuropäischen Länder, die fast alle weit unterhalb des durchschnittlichen Wohlstandsniveaus der EU liegen. Unvereinbar mit einer solidarischen Haltung ist daher ein neoliberal inspirierter Sparhaushalt der EU, der sogar 2004 – und damit im Jahr der bisher größten Erweiterung der Union – weiter reduziert werden soll. Die großen und relativ wohlhabenden europäischen Staaten, auch Deutschland, müssen daher Umdenken.
Die Krise als Chance begreifen
Die mit dem Scheitern des Gipfels von Brüssel aufgebrochene Krise der EU kann als Chance genutzt werden, den Verfassungsentwurf jetzt grundlegend zu revidieren. Der gegenwärtige Entwurf ist nicht viel mehr ist als die Fortschreibung der Wirtschaftsordnung von Maastricht, ergänzt um weitere, ausgesprochen problematische Integrationsschritte im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik und im Bereich Innen und Recht. Auch führt der Entwurf zu einer weiteren Zentralisierung der EU, ohne aber sie dabei grundlegend zu demokratisieren. Er ist daher kaum brauchbar. In einem in der Frankfurter Rundschau veröffentlichten Aufruf „Europa in schlechter Verfassung – So? Nein!“ hatten prominente Gewerkschafter, Künstler und Politiker nur einen Tag vor Beginn der Regierungskonferenz noch einmal auf diese gravierenden Unzulänglichkeiten des Entwurfs hingewiesen.
Notwendig ist vielmehr ein Neuaufbau der Europäischen Union, bei der weit über die bisherige enge wirtschaftliche Integration hinausgedacht wird. Der ehemalige französische sozialistische Ministerpräsident Lionel Jospin hatte diese Aufgabe wie folgt beschrieben: „Bis vor kurzem konzentrierten sich die Anstrengungen der Union auf die Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion….Heute bedarf es aber einer weiter reichenden Perspektive, andernfalls wird Europa zu einem bloßen Markt verkommen und in der Globalisierung aufgeweicht. Denn Europa ist viel mehr als ein Markt. Es steht für ein Gesellschaftsmodell, das geschichtlich gewachsen ist.“ Die im Dezember in Brüssel versammelten Staats- und Regierungschefs waren aber nicht in der Lage, dieser Herausforderung der Zeit zu entsprechen.
Aus: Marxistische Blätter 01/2004