Cap-Anamur-Flüchtlinge vor der Abschiebung: Europäische Abschottungspolitik kein Thema?
Interview der Tageszeitung junge Welt mit Tobias Pflüger, Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung (IMI) und parteiloses Mitglied des Europaparlaments
Frage: Sie haben sich auf Sizilien ein Bild von der Krise um das Flüchtlingsschiff Cap Anamur machen können. Wie schätzen Sie die derzeitige Situation ein?
Unter dem Eindruck der Medienberichterstattung über die Festnahme des Cap-Anamur-Geschäftsführers, des Kapitäns und des Ersten Offiziers des Schiffes ist das Schicksal der 37 Flüchtlinge fast in Vergessenheit geraten. Meine Absicht und die meiner Kollegin im EU-Parlament Lusia Morgantini war es, sowohl für die Flüchtlinge als auch die Cap-Anamur-Gefangenen etwas zu tun. Letztere wurden bekanntlich unter Auflagen auf freien Fuß gesetzt. Persönlich geht es mir insbesondere darum, daß endlich die brutale Flüchtlingspolitik der Europäischen Union und dort insbesondere die Deutschlands und Italiens auf die Tagesordnung kommt. Einziges Ziel der Flüchtlingspolitik Deutschlands und der EU ist es offensichtlich, die Außengrenzen der EU dichtzumachen und möglichst jeden Flüchtling abzuschieben, der in die EU fliehen will.
Frage: Cap-Anamur-Geschäftsführer Elias Bierdel wird vorgeworfen, das vermeintliche Flüchtlingsdrama aus Zwecken der Eigenwerbung inszeniert zu haben. Wie stehen Sie zu den Anschuldigungen?
Das ist schwer einzuschätzen. Kapitan Stefan Schmidt und Elias Bierdel haben mir gegenüber versichert, daß es ihnen um die Flüchtlinge geht. Aber ganz unabhängig davon, ob sich die 37 Flüchtlinge nun in Seenot befanden oder nicht – der Fall hat ein Drama öffentlich gemacht, wie es sich tagtäglich im Mittelmeer abspielt, aber von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen wird.
Frage: Für Sie spielt es keine Rolle, ob die Flüchtlinge, wie anfangs behauptet, aus dem Sudan stammen oder aus anderen Staaten?
Wenn sich Menschen auf eine Odyssee über das Mittelmeer begeben und dabei ihr Leben aufs Spiel setzen, werden sie zweifellos gute Gründe dafür haben. Das Problem ist, daß man in der Öffentlichkeit zwischen »guten« und »schlechten« Flüchtlingen unterscheidet. »Gut« sind angeblich nur jene, die aus einem Land fliehen, das gerade im Fokus der Öffentlichkeit steht, wie gegenwärtig der Sudan.
Frage: Italien will mindestens 14 der 37 Flüchtlinge abschieben. Welche Möglichkeiten haben Sie als EU-Parlamentarier, diese und weitere Abschiebungen zu verhindern?
Was ich weiterhin machen kann, ist, Öffentlichkeit für den konkreten Fall und die brutale Flüchtlingspolitik der EU herzustellen. Schwierig war es in den jetzigen Einzelfällen noch mehr zu machen, weil uns diesmal der Zugang zu den Flüchtlingen verwehrt wurde. Luisa Morgantini und ich haben jedoch vereinbart, den gesamten Komplex der EU-Abschottungspolitik, das heißt, die alltäglichen Tragödien im Mittelmeer und in den neuen und alten Abschiebelagern an den EU-Außengrenzen zu thematisieren, auch im Europäischen Parlament.
Frage: Wurde einem Hardliner wie Innenminister Otto Schily (SPD) mit dem angeblichen Cap-Anamur-Skandal nicht in die Hände gespielt?
Der eigentliche Skandal besteht doch darin, daß ein Herr Schily Menschen ungestraft als Kriminelle diffamieren kann, die sich zur Aufgabe gemacht haben, Flüchtlingen zu helfen. An diesem Punkt hat Schily keine Medienlufthoheit bekommen. Ich fordere auch wegen seiner unsäglichen Äußerungen im Fall Cap Anamur den Rücktritt von Otto Schily.