Ein Orwellscher Überwachungsstaat darf in Europa nicht entstehen
Zum bevorstehenden Treffen der EU-Innenminister zum Thema Terrorismusbekämpfung in Brüssel erklärt die PDS-Europaabgeordnete Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann:
Die verbrecherischeren Anschläge von Madrid offenbaren, dass nunmehr auch Europa zum direkten Zielgebiet des internationalen Terrorismus geworden ist. Damit ist in der EU eine neue Lage entstanden, der die Politik Rechnung tragen muss. Auch die europäische Linke ist gefordert, dies als eine neuartige Herausforderung zu begreifen.
Tatsache ist aber, dass die neue Sicherheitslage eher für machtpolitische Ziele missbraucht zu werden droht und die Debatte über innere Sicherheit und Zuwanderung zu Lasten der Betroffenen geht. Die abgewählte konservative spanische Regierung bemühte sich sogar, die Madrider Anschläge für einen Wahlsieg zu instrumentalisieren. Gefährliche Konsequenz dieser versuchten Manipulation ist einzig und allein, die Erkenntnis, dass mit terroristischen Aktionen in der EU gegebenenfalls Wahlen zu beeinflussen sind – ein Szenario, an dem Terroristen durchaus Gefallen finden könnten.
Vor dem Innenminister-Treffens wurden konservative Uraltforderungen nach mehr Geheimdienst, Polizei und Armee aus der Schublade gezogen. In Deutschland wärmen CDU und CSU ihre Idee vom Einsatz der Bundeswehr im Innern auf. In Österreich wird nach einer europäischen CIA namens EIA gerufen, was Innenminister Schily offenbar unterstützt. EU-Kommissionspräsident Prodi fordert einen „Anti-Terror-Kommissar“ und EU-Chefdiplomat Solana einen „Koordinator für den Anti-Terror-Kampf“. Das ist Aktionismus pur, der offenbar die Bevölkerung in Sicherheit wiegen soll, aber reale Terrorgefahren nicht wirklich bekämpft. Bislang ist nicht einmal jener Plan von Maßnahmen vollständig umgesetzt worden, der nach dem 11. September verabschiedet wurde, wie zum Beispiel eine einheitliche Terrorismusdefinition, effizienter Informationsaustausch und Unterbindung der Geldversorgung von Terroristen. Es wäre schon viel gewonnen, würden die vorhandenen legitimen polizeilichen Möglichkeiten zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit in allen EU-Mitgliedstaaten voll ausgeschöpft. Klar sein muss: Bei der Terrorbekämpfung dürfen die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger nicht zur Disposition stehen. Hierzulande gilt das aufgrund bitterer historischer Erfahrungen im Grundgesetz verankerte Trennungsgebot von Polizei und Geheimdiensten sowie das Verbot des Einsatzes von Militär im Innern. Diese Verfassungsgrundsätze dürfen nicht – auch nicht über die europäische Hintertür – in Frage gestellt werden. Ein Orwellscher Überwachungsstaat darf nicht entstehen.
Terror kann letztlich nur durch überzeugende Politik wirksam bekämpft werden. Dies setzt allerdings eine strikt auf friedlichen und gerechten Interessenausgleich zielende Politik zwischen dem reichen Norden und der südlichen Hemisphäre sowie die Beendigung der Ausplünderung der sogenannten Dritten Welt voraus.
Außerdem von Bedeutung sind die friedliche Lösung des Nahostkonflikts und der Abzug der USA aus dem Irak. Auch die europäischen Waffenexporte müssen gestoppt werden.
Brüssel/Berlin, den 18.03.2004