Auf die Inhalte der Verfassung kommt es an

Zur Entscheidung des EU-Frühjahrsgipfels in Brüssel, die Verhandlungen über die Europäische Verfassung wieder aufzunehmen, erklärt die PDS-Europaabgeordnete Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann, ehemaliges Mitglied des Verfassungskonvents:

Die Entscheidung der EU-Staats- und Regierungschefs, die Verhandlungen über den Verfassungsentwurf des Konvents wieder aufzunehmen, ist zu unterstützen, denn die erweiterte Europäische Union braucht einen neuen Verfassungsvertrag.

Signalisiert wurde, dass sich im Ergebnis der Wahlen in Spanien und aufgrund einer sich offensichtlich abzeichnenden Kompromissbereitschaft der polnischen Regierung eine Lösung im Hinblick auf die heiß umstrittene Frage der doppelten Mehrheit (der EU-Mitgliedstaaten und der Bevölkerung) bei Entscheidungen im Ministerrat abzeichnet. Das ist zu begrüßen, reicht aber allein nicht aus. Korrigiert werden muss die im Verfassungsentwurf enthaltene militärinterventionistische Ausrichtung der EU. Die Verpflichtung aller Mitgliedstaaten zur Auf- bzw. Umrüstung gehört ebenfalls nicht in eine Verfassung. Statt auf eine Rüstungsagentur sollte die Verfassung auf die Schaffung einer Agentur für Abrüstung und Konversion orientieren.

Darüber hinaus gibt es zahlreiche zentrale Streitpunkte, deren Lösung zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch völlig unklar ist. Skandalös ist, dass die gravierenden inhaltlichen Widersprüche zwischen Teil I und Teil III der Verfassung offenbar überhaupt nicht thematisiert werden. Soll denn den Bürgerinnen und Bürgern ein Verfassungsvertrag präsentiert werden, in dem die Europäische Union einerseits als „soziale Marktwirtschaft“ und andererseits als „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ definiert wird bzw. einerseits „Vollbeschäftigung“ und andererseits „ein hohes Maß an Beschäftigung“ als Ziele gemeinsamer Politik in Europa festgelegt werden? Überhaupt zu fragen ist, ob die Regierungen den Angriffen der Europäischen Zentralbank und einflussreicher Wirtschaftskreise auf den Konventsentwurf nachgeben werden, die eine Rücknahme und Verwässerung wichtiger wirtschafts- und beschäftigungspolitischer Neuerungen des Konventsentwurfs fordern.

Unklar ist ferner, wie die künftige Zusammensetzung der EU-Kommission aussehen wird oder ob entgegen der Empfehlung des Verfassungskonvents doch noch eine so genannte Gottesformel Eingang in die Verfassung finden soll. Zu erinnern ist auch daran, dass der Rat der Wirtschafts- und Finanzminister (Ecofin) das vom Konvent vorgeschlagene veränderte Haushaltsverfahren, das eine Stärkung der Haushaltsrechte des Europaparlaments vorsieht, grundsätzlich in Frage gestellt hat. Das Europäische Parlament hatte dazu klargestellt, die Verfassung nicht mehr zu unterstützen, sollten sich die Ecofin-Positionen letztendlich durchsetzen. Ferner geht aus Dokumenten der italienischen Ratspräsidentschaft hervor, dass die vom Konvent vorgeschlagene Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat stark beschnitten werden soll und sogar die diesbezügliche so genannte „Passarelle-Klausel“ in Frage gestellt wird. Selbst der ehemalige Vizepräsident des Verfassungskonvents, Julio Amato, hat dazu auf einer gemeinsamen Beratung von Abgeordneten des EP-Verfassungsausschusses und nationaler Parlamente am 17. Februar in Brüssel klargestellt, dass er einem Verfassungstext in der Fassung des Brüsseler Dezembergipfels nicht mehr zustimmen würde.

Es ist dringend erforderlich, dass zu diesen Fragen umgehend eine öffentliche Diskussion stattfindet, denn auf die Inhalte der Verfassung kommt es an. Deshalb muss Druck auf die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten ausgeübt werden. Ihnen darf zudem nicht gestattet werden, ohne die Meinung der Zivilgesellschaft den endgültigen Verfassungstext allein zu bestimmen.

Berlin, den 26.03.2004