Es geht um geopolitische Interessen statt um Menschenrechte: Scheinheiligkeit in Sachen Türkei bei Konservativen, Sozialdemokraten und Grünen
Der EU-Kommission und der deutschen Bundesregierung geht es im Hinblick auf einen Beitritt der Türkei primär um geopolitische Erwägungen. Die Türkei als Waffenbruder und als geopolitisches Gewicht, das ist es, was vor allem interessiert. Im Bericht der EU-Kommission zur Türkei, der meinem Büro vorab zuging, finden sich reihenweise Zitate, die dies belegen. Der Bericht ist auf meiner Homepage abrufbar: http://www.tobias-pflueger.de/Tuerkei-Bericht-Kommission.pdf
Auch der amtierende EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen sagte offen, um was es geht: „Der Beitritt der Türkei würde Europa – ob Europa das will oder nicht – zu einem weltpolitischen Akteur ersten Ranges machen. Wir müssten bis dahin in der Tat in der Lage sein, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik entwickeln, die diesen Namen auch verdient.“ (ARD-Tagesthemen, 24.09.2004)
Ich bin auf jeden Fall klar für einen EU-Beitritt der Türkei und damit auch für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Allerdings wer jetzt behaupt die Kopenhagener Kriterien seien erfüllt, der sagt einfach die Unwahrheit. Menschenrechte, auf die ansonsten so viel Wert gelegt wird im Europaparlament und im dortigen Auswärtigen Ausschuss werden in der Türkei nach wie vor mit den Füßen getreten:
Nur einige Beispiele:
– Die Pressefreiheit wird permanent dadurch verletzt, dass missliebige Zeitungen mit Prozessen überzogen werden, für die die türkischen Gesetze den Rahmen bilden. So wurde jetzt die linke Zeitung „Günlük Evrensel“ wegen einer Karikatur über Tayyip Erdogan von diesem selbst auf 10 Milliarden türkische Lira „Schmerzensgeld“ verklagt.
– Die Lage in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei bleibt weiter angespannt, Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung, für die Opfer des Bürgerkrieges wird kaum etwas getan.
– Die Situation von türkischen und kurdischen Kriegsdienstverweigerern ist nach wie vor völlig unerträglich. Kriegsdienstverweigerung wird weiter hart bestraft in der Türkei.
– Nach Angaben von amnesty international wird weiter gefoltert. Wer, wie Günter Verheugen davon spricht, es gebe keine „systematische Folter“ mehr in der Türkei, der verharmlost diese Tatsache.
– Wer vom Völkermord an den Armenier spricht oder dazu publiziert, dem drohen in der Türkei auch weiterhin Anklage und jahrelange Haft. Daran hat auch die jüngste Strafrechtsreform nichts geändert.
Die Lage der Menschenrechte, die doch das Hauptkriterium für die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen sein sollte, hat sich nicht wesentlich verbessert. Im Länderbericht 2003 von amnesty international zur Türkei ist verzeichnet, dass anhaltende Berichte über Folterungen und Misshandlungen im Polizeigewahrsam und über die Anwendung exzessiver Gewalt gegenüber Demonstranten weiterhin Anlass zu großer Sorge geben. Daran ändert nichts, dass der Einsatz einzelner Foltermethoden zurückgegangen zu sein scheint. Und ganz klar stellt der Bericht fest, dass der Teilnahme an friedlichen Demonstrationen und der Äußerung abweichender Meinungen zu bestimmten Themen weiterhin strafrechtliche Verfolgung drohen. Ein trauriges Fazit. Umso trauriger, dass diese Fakten offensichtlich keine Rolle spielen, obwohl die Einhaltung der Menschenrechte fest in den Kopenhagener Kriterien verankert ist und Grundlage für eine Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen sein soll.
Die deutschen Konservativen, die jetzt über Menschenrechte in der Türkei reden, sollten lieber schweigen. Sie haben wie die rotgrüne Bundesregierung immer Waffenlieferungen in die Türkei befürwortet. Sie haben zu Menschenrechten auch ein ähnlich instrumentelles Verhältnis wie die rotgrüne Bundesregierung. CDU/CSU sind aus ganz anderen Gründen gegen einen Beitritt der Türkei. Hier werden direkt und indirekt Vorurteile und Ängste gegenüber einem muslimischen Land bedient.
Fest steht: Offensichtlich soll der Türkei auf Biegen und Brechen der Weg zu Beitrittsverhandlungen geebnet werden. Dabei geht es um geopolitische Interessen und die Wünsche der deutschen Industrie, nicht um Menschenrechte oder antirassistisches Engagement.
Brüssel, den 06. Oktober 2004
Kontakt: Büro Pflüger Tel.: 00322 284 5555