Kommissionsvorschlag zum Stabilitätspakt schreibt Dilemma fort
Zu den Vorschlägen der EU-Kommission zur Reform des Stabilitätspakts erklärt Sahra Wagenknecht, PDS-Europaabgeordnete:
Die Kommission hat die Chance vertan, eine umfassende Reform des Stabilitätspakts einzuleiten. Dass die aktuelle Situation unhaltbar ist, sieht allerdings auch sie. Mit ihren zaghaften Vorschlägen versucht sie jedoch, den unübersehbaren Reformnotwendigkeiten Rechnung zu tragen, ohne an den Grundlagen des Pakts zu rühren. Dieser Versuch kann nicht gelingen. Maßnahmen wie mehr zeitliche Flexibilität beim Erreichen des Defizitziels und größere Spielräume bei der Haushaltssanierung beheben nicht das Grundproblem, dass der Stabilitätspakt in der vorliegenden Form die wirtschaftlichen und sozialen Probleme nicht löst, sondern immer weiter verschärft. Die von der Kommission vorgeschlagene Aufnahme einer wirtschaftlichen Schwächephase als Kriterium für den Verzicht auf Sanktionen beim Überschreiten des Defizitziels ist nur der Versuch, dem jetzigen Status Quo Rechnung zu tragen und den absurden Zustand zu beenden, ständig neue Defizitverfahren einzuleiten, ohne Sanktionen wirklich verhängen zu können bzw. zu wollen.
Notwendig in der europäischen Wirtschafts- und Finanzpolitik ist ein radikales Umdenken. Dies bleibt die Kommission allerdings ebenso schuldig wie die EZB, die gleichfalls in gewohnter Manier unter Ausblendung der sozialen Realitäten ein Festhalten am Stabilitätspakt propagiert. Ihre prognostizierte erhöhte Wachstumsquote für 2004 und 2005 täuscht nicht darüber hinweg, dass der Aufschwung in den meisten europäischen Ländern momentan nicht erkennbar ist und auch kaum mit Hilfe der alten Rezepte gelingen wird. Die aktuellen Arbeitslosenzahlen, die in Deutschland auf dem höchsten Stand seit 1990 sind, sprechen eine deutliche Sprache.
Gebraucht wird kein Pakt, der einseitig auf „Preisstabilität“ orientiert, sondern ein sozialer Stabilitätspakt. Immer weiterer Sozialabbau und Konkurrieren um die niedrigsten Sozialstandards führen nicht heraus aus der negativen Spirale. Nachhaltiges Wachstum und die Schaffung existenzsichernder Arbeitsplätze werden sich nur erreichen lassen, wenn die Binnennachfrage über öffentliche Investitionen und eine Umverteilung von Einkommen von Oben nach Unten angekurbelt wird. Dafür muss die Berechnungsgrundlage für das Defizitkriterium des Stabilitätspakts endlich neu geregelt werden. Um einen vollständigen Kollaps der öffentlichen Finanzen zu verhindern ist es außerdem dringend geboten, die geringe Unternehmensbesteuerung in einigen EU-Mitgliedsländern zu beenden und eine Harmonisierung der direkten Steuern auf oberem Level zu erreichen, damit der Steuerdumping-Wettlauf mit seinen negativen Auswirkungen auf Wirtschaft und Beschäftigung endlich ein Ende hat.
Die lauwarme Reform, die heute von der Kommission vorgeschlagen worden ist, wird die durch den Stabilitätspakt maßgeblich mit verursachten grundlegenden Probleme in der Wirtschafts- und Sozialpolitik der EU-Mitgliedstaaten nicht lösen. Im Gegenteil: Auch nach der Reform wird der Stabilitätspakt weiterhin als Hebel zur Zerschlagung des europäischen Sozialmodells dienen.
Sahra Wagenknecht, MdEP
Brüssel/Berlin, den 03. September 2004