Wen kümmert schon Europa? oder: Was die Abgeordneten des Europäischen Parlaments bewegen können

Brüssel ist weit weg, und in der EU-Zentrale wird ohnehin nur die Krümmung von Bananen normiert. Oder über wirtschaftspolitische Fragen sinniert, die kaum jemand versteht und die ohne konkrete Auswirkungen bleiben. „Raumschiff Brüssel“ eben, vor allem mit sich selbst beschäftigt und abgehoben vom realen Leben.
Solche Klischees halten sich hartnäckig. Tatsache aber ist, dass „Europa“ viel stärker in das Leben jedes Einzelnen eingreift, als auf den ersten Blick sichtbar. Und dabei geht es keineswegs nur um irgendwelche Normen (obgleich diese, wie bei technischer Sicherheit, durchaus sinnvoll sind). Schon heute sind 60 Prozent der kommunalen und gar 80 Prozent der nationalen Rahmengesetzgebung von EU-Vorgaben beeinflusst. Nur ein Beispiel aus jüngster Zeit: Die Anfang des Monats vom Europaparlament verabschiedete Kennzeichnungspflicht für „Gen-Food“ muss bis zum Jahresende in allen EU-Staaten mit entsprechenden Rechtsakten umgesetzt werden. Unbestritten ein großer Fortschritt für den europaweiten Verbraucherschutz.
Allerdings sind solche bürgerfreundlichen Initiativen eher die Ausnahme in der EU-Politik. Von der Einheitlichen Europäischen Akte, die die Durchsetzung des EG-Binnenmarktes zum Ziel hatte, über den Vertrag von Maastricht, der die Währungsunion konzipierte, bis hin zum Nizza-Gipfel im Dezember 2000, der die EU-Reform einleiten sollte, sind die Weichen der europäischen Integration stets im Interesse von Finanzkapital und Großunternehmen gestellt worden. Das ist bis heute so geblieben: Nicht um soziale Gerechtigkeit geht es in EU-Europa, sondern um das ungehinderte Agieren der Wirtschaft. Die sogenannten vier Grundfreiheiten – freier Kapital-, Waren-, Dienstleistungs- und Personenverkehr – dienen vor allem international tätigen Konzernen. Nicht die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit – über 14 Millionen Menschen sind in der EU offiziell ohne Arbeit – steht im Mittelpunkt der Gemeinschaftspolitik, sondern Sozialabbau und Deregulierung. Der „EU-Beschäftigungsgipfel“ im März pries die freie Vereinbarung von Löhnen und die Privatisierung von Renten- und Sozialsystemen abermals als Rezepte zur Wirtschaftssanierung. Nicht die Stärkung der öffentlichen Daseinsfürsorge macht sich Brüssel zur Aufgabe, sondern deren Beseitigung. Das von der EU voran getriebene internationale Dienstleistungsabkommen GATS soll von Bildung über Energie- und Wasserversorgung bis hin zum öffentlichen Nahverkehr nahezu alle Bereiche „liberalisieren“. Die Folgen, wie höhere Preise oder niedrigere Qualitätsstandards, würden auf die Bürger zurück fallen.
Natürlich ist der Einfluss der sechs PDS-Vertreter im Europäischen Parlament auf diesen Kurs nur gering, zumal die Europaabgeordneten nach wie vor nicht über die gleichen Rechte verfügen wie nationale Parlamentarier. Aber wir können auf die wirklich wichtigen Themen hinweisen, Fragen aufwerfen, Unterstützung geben. Gerade zum aktuellen Thema GATS hat die PDS-Gruppe deutlich Stellung bezogen: Mit Forderungen an die Europäische Kommission und den Rat (das eigentliche Entscheidungsgremium der EU), die Verhandlungen sofort zu stoppen und neue, transparente Gespräche zu beginnen, die soziale und ökologische Fragen in den Mittelpunkt stellen. Gemeinsam mit Nichtregierungsorganisationen wie Attac informieren wir über Konsequenzen für die Kommunen und die Bürger, beteiligen uns an Protestaktionen, mobilisieren Lokalpolitiker und Abgeordnete.
Ein sozial gerechtes Europa zu schaffen, ist erklärtes Ziel der PDS-Europaabgeordneten. Dass dies Kampf erfordert, ist uns nicht erst seit der Europawahl von 1999 bewusst. Und dieser Kampf muss auf verschiedenen Ebenen und mit vielfältigen Mitteln geführt werden: mit Parlamentsdebatten ebenso wie mit direkter Ansprache von europäischen Institutionen, mit dem Schaffen von Bündnissen und Initiativen vor Ort. Nehmen wir das Edelstahlwerk in Gröditz. Dem traditionsreichen Betrieb drohte das Aus, weil die EU-Kommission einem Verkauf aus Wettbewerbsgründen nicht zustimmen wollte. Gröditz wurde zum „Dauerbrenner“ in der PDS-Gruppe, Lobbyarbeit in Brüssel war ebenso angesagt wie das Schmieden von Bündnissen in der Region. Als die Kommission schließlich dem Kaufvertrag zustimmte und die Betriebsübernahme im September 2002 erfolgte, konnten 650 Arbeits- und 50 Ausbildungsplätze erhalten werden. Ein anderes Beispiel ist die ostdeutsche Schiffbauindustrie. Den Werften an der Ostseeküste wurden von Brüssel Produktionsbeschränkungen auferlegt – als „Gegenleistung“ für Modernisierungssubventionen. Dass diese ebenso unsinnige wie diskriminierende Praxis zumindest in einigen Teilbereichen gelockert wurde, ist auch dem Engagement der PDS-Europaparlamentarier zu danken.
Ein sozialer Umbau EU-Europas muss zugleich mit einer durchgreifenden Demokratisierung der Gemeinschaft und ihrer Organe verbunden sein. Mit dem europäischen Konvent, der jetzt einen Verfassungsentwurf für die EU vorlegte, ist ein großer Schritt in diese Richtung getan worden. Sylvia-Yvonne Kaufmann hat die PDS-Abgeordneten in diesem Gremium vertreten und ihre Erfahrungen bei der Ausarbeitung der EU-Grundrechtecharta eingebracht. Obgleich der Verfassungsentwurf in vielen Bereichen noch verbessert werden muss (vor allem bei der Sicherung wirtschaftlicher und sozialer Grundsicherung), konnten wichtige demokratische Rechte juristisch verankert werden. Dazu gehört insbesondere auch die Möglichkeit von europäischen Referenden. Bisher hatten die Bürger bis auf wenige Ausnahmen die Vorgaben aus Brüssel einfach zu schlucken.
Mir persönlich liegt natürlich auch die europäische „Außenpolitik“ am Herzen. Die geplante und bereits eingeleitete Schaffung einer „Militärmacht EU“, die faktische und praktische Strategie des US-Gewaltkurses in der internationalen Arena widersprechen europäischen Interessen und der Verantwortung Europas für internationale Sicherheit und Stabilität. Statt dessen muss die EU bei Krisen präventiv wirken und ihr vorhandenes Ansehen und diplomatisches Potenzial für friedliche Konfliktbeilegung nutzen. Bei meinen jüngsten Reisen in den Vorkriegs-Irak und im Juni nach Afghanistan habe ich diese Meinung oft gehört. Dass sich das Europaparlament dieser Fragen verstärkt annimmt, ist zumindest ein kleiner Erfolg für die Konföderale Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke, zu der auch die PDS-Abgeordneten gehören.n