Die Machtpolitik der USA in Afghanistan
Mit beträchtlicher Verzögerung wurde am 2. November der Entwurf der neuen afghanischen Verfassung veröffentlicht. Für eine öffentliche Diskussion blieb kaum noch Zeit. In einem so zerstörten Land – und das nicht nur physisch, sondern auch kulturell – hätte eine politische Debatte über die Verfassung einige Monate erfordert. Sie wäre eine große Chance gewesen, das zerrissene Land zusammenzuführen. Diese Chance ist den Kämpfen der lokalen Kriegsherren, den fundamentalistischen Bestrebungen konservativer islamischer Kreise und vor allem der Absicht der Bush-Administration geopfert worden, in Afghanistan die eigenen machtpolitischen Ziele durchzusetzen. Als ich im Sommer das Land zum ersten Mal besuchte, kam ich in den „Genuss“ eines Briefings durch den Kommandeur der US- und Koalitionstruppen, General Vines. Sein letzter Satz lautete: „Ziel der Vereinigten Staaten ist eine Regierung in Afghanistan, die bereit wäre, die USA jederzeit zurück in das Land zu holen, wenn dies erforderlich sein sollte.“
Ein Parlament soll vorerst nicht gewählt werden, stattdessen nur der von den USA ausgewählte Präsident Karzai. Ihn stattet die Verfassung mit einer fast beispiellosen Macht aus. Die Wahl darf wahrscheinlich im Herbst 2004 stattfinden. So wird Bush in den eigenen Wahlkampf mit einem angeblichen Erfolg gehen können, den er angesichts der katastrophalen Situation im Irak dringend benötigt. Doch auch in Afghanistan ist die Lage bedrohlich. Vor allem für die dort lebenden Menschen.
Die Macht der Regierung reicht bis zum Stadtrand der Hauptstadt. Aber auch diese Beschreibung ist beschönigend. Denn der von schwer bewaffneten amerikanischen GIs bewachte Präsident hat zwar die USA hinter sich, aber seinen eigenen Verteidigungsminister Fahim gegen sich. Der verfügt faktisch nicht nur über die von der Nordallianz dominierten Kabuler Sicherheitskräfte, sondern über eine Privatarmee mit einem umfangreichen Arsenal schwerer Waffen. Im Norden Afghanistans haben sich Warlords wie die Generäle Dostum und Atta ihre Herrschaftsgebiete gesichert, die von der Zentralregierung nicht in Frage gestellt, sondern lediglich durch die periodischen Machtkämpfe untereinander oder durch lokale Feldkommandanten vergrößert oder verkleinert werden. Im Westen (Herat) herrscht der Gouverneur Ismail Khan wie ein absolutistischer Fürst, finanziell gut ausgestattet, weil die reichlich fließenden Zölle an der afghanisch-iranischen Grenze nicht nach Kabul, sondern in seine Taschen fließen. Im Süden und Osten Afghanistans haben sich die Taliban neu organisiert und sind wieder in der Lage, weite Landstriche zu verunsichern und zu kontrollieren (z.B. zwei Drittel der Provinz Zabul).
Als wäre es für dieses, durch 25 Jahre Krieg gepeinigte Land nicht genug, greift unter der Aufsicht der UNO und der USA die Drogenproduktion (Schlafmohn, das Ausgangsprodukt von Heroin) um sich. In diesem Jahr wird jeder Rekord übertroffen werden, nachdem der Anbau im letzten Jahr der Taliban-Herrschaft fast zum Erliegen gekommen war. Anbau und vor allem Opium- und Heroin-Handel sind eine neue, reichlich sprudelnde Finanzierungsquelle für die Warlords und einige Gouverneure. Waffen- und Menschenhandel, viele Formen von Kriminalität und immer wieder aufflackernde Gefechte zwischen konkurrierenden Gruppen sind unmittelbar mit dieser Entwicklung verbunden. Leidtragende sind die Menschen in Afghanistan, die sehnlichst nur eins wollen: Frieden. Sie sind, ich hörte es überall und von jeder und jedem, nicht mehr fähig, Krieg zu ertragen, und sie sind es auch nicht gewillt. Aber ihre Meinung zählt auch heute wenig. Paradoxerweise werden die Warlords und Drogenbarone der Nordallianz finanziell, militärisch und politisch weiter von den USA unterstützt, obwohl sie eine Gefahr für die Herrschaft Karzais sind und das afghanische Heroin den europäischen Markt überschwemmt. Wie ist das zu erklären, fragte ich meine afghanischen Gesprächspartner oder die mich. Wir wussten nur eine Antwort: Das Interesse der USA an diesem bettelarmen Land ist gering. Sie brauchen kein stabiles, friedliches Afghanistan, sondern ein unsicheres, konfliktreiches, um ihren imperialen Militarismus und die ungeheuren Rüstungsausgaben innenpolitisch begründen und durchsetzen zu können.
Die Europäische Union und ihre Mitgliedsländer hätten ebenso wie die UNO die Verantwortung und die Möglichkeit einer entschieden anderen Politik: Abrüstung der Privatarmeen, reale Stärkung der zentralen afghanischen Institutionen (Regierung, Polizei, nationale Armee), vor allem politische, moralische, finanzielle Unterstützung der Zivilgesellschaft und der gar nicht so schwachen demokratischen Gemeinschaft in Afghanistan. Viele europäische Diplomaten und Militärs, die ich traf, sehen das durchaus ähnlich. Aber wieder einmal ist die EU nicht zu gemeinsamer Politik in der Lage und schon gar nicht bereit, sich der US-Administration entgegenzustellen.
Dennoch kam ich etwas zuversichtlicher von meiner zweiten Reise zurück als im Juni. Ich hatte diesmal Dutzende Frauen und Männer getroffen, die demokratische Parteien, demokratische Medien und offene politische Diskussionen organisieren, viele mit landesweiten Strukturen und vielfach auch miteinander über ihre sonstigen politischen Grenzen hinweg im Gespräch. In Afghanistan besteht eine demokratische Öffentlichkeit. Sie wird vom „Westen“ weitgehend ignoriert. Sie ist schwach gegen die derzeit herrschende Macht der Waffen. Aber intellektuell, kulturell und mit ihrem ansteckenden Optimismus gehört ihr vielleicht die Zukunft.n