Kein Grund zu Euphorie

Hans Modrow

Die Erweiterung der EU: technisch perfekt, konzeptionell unausgereift
Ob die Erweiterung der EU um 10 neue Staaten von historischem Gewicht ist, wird sich zeigen. Von materiellem Gewicht ist sie zweifellos: Mehrere Kilo wiegt der Beitrittsvertrag, der vom Europaparlament und den nationalen Parlamenten ratifiziert sowie durch Referenden in nahezu allen Beitrittsstaaten bestätigt werden muss. Technisch stellt der Vertrag ein Meisterwerk an technischer Perfektion dar; bis ins kleinste und letzte Detail werden auf rund 7000 Seiten die Ergebnisse siebenjähriger Verhandlungen mit den Kandidatenländer aufgelistet. In den darauf fußenden Länderberichten sowie in dem übergreifenden Bericht des federführenden Auswärtigen Ausschusses wird dem Vertrag zugestimmt und die Aufnahme der Zehn befürwortet.
Garniert wird das Ganze mit wohlklingenden Worten, die namentlich den Bürgern in Ostdeutschland vertraut sind. Die erweiterte EU wird mehr Wohlstand für alle bringen, hören wir, und keinem werde es schlechter gehen. Unterschlagen wird, dass die Menschen der zehn Staaten in eine Union kommen, die neuen Zerreiß- und Härteproben ausgesetzt ist, deren Folgen noch gar nicht absehbar sind. Wer wie ich am 1. Februar 1990 Deutschland einig Vaterland gesagt hat und dabei wusste, dass er damit den Staat DDR, für den er die Verantwortung trug, auch in die EU führen würde, sollte eigentlich nicht im Verdacht einer fundamentalen Ablehnung der EU stehen – auch wenn er zu ihrer Entwicklung und Verfasstheit sehr kritische Positionen bezieht.
Wenn ich die Erweiterung der EU grundsätzlich befürworte, so sehe ich doch zugleich auch die inhaltlichen Schwächen und konzeptionelle Blößen, die von Anfang an den Verhandlungsprozess begleiteten. Zu Recht kritisiert der Ex-Diplomat und Publizist Günter Gaus in der Berliner Wochenzeitung „Freitag“, dass in der gedankenlosen Euphorie der Wendezeit die Überdehnung der EU bis hin zu ihrer gründlichen Veränderung fast unerörtert blieb. Im Rausch künftiger Machtgröße, so Gaus, kamen „andere Formen der Vereinigung Osteuropas mit Westeuropa nicht auf die Tagesordnung“.
Diese Kurzsichtigkeit kann sich rächen, denn viele der Probleme sind nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben. Um nur einige zu nennen:
Wie steht es mit der sozialen Gerechtigkeit in der erweiterten EU, wenn die Kluft zwischen Armut und Reichtum so groß ist und weiter wächst? Wenn die Arbeitslosigkeit zweistellig geworden ist und in manchen Regionen mehr als ein Viertel der Erwerbsfähigen beträgt? Wenn der freie Binnenmarkt einen ungehemmten Warenstrom aufnehmen muss, aber die einheimische Industrie weitgehend zerschlagen oder wie in Ostdeutschland nach 1990 zu 90 Prozent in die Hände ausländischer Besitzer übergegangen ist? Welche Folgen hat es, wenn die neuen Länder nur als verlängerte Werkbank westlicher Unternehmen fungieren, die von dem Lohngefälle profitieren?
Schon jetzt zeichnet sich ab, dass es um die Fördertöpfe nach 2006 ein Hauen und Stechen geben wird. Hier prallen unmittelbar die Bedürfnisse der alten und neuen Mitglieder aufeinander. Ostdeutschland ist direkt betroffen. Wenn die Strukturhilfen nicht nach inhaltlichen Kriterien gewichtet werden, fallen nahezu alle ostdeutschen Regionen aus der höchsten Förderstufe heraus – ohne dass sich ihre Lage auch nur um einen Deut verbessert hätte.
Die historische Dimension des Augenblicks ist unbestritten – streitbar ist jedoch, wie sich die EU in dieser Situation verhält und ob sie sich dem historischen Anspruch gewachsen zeigt. Tut sie es nicht, wird ihre weitere Entwicklung offener sein, als viele es heute wahrhaben wollen. In sofern besteht zu Euphorie kein Grund.n