Afghanistan 18 Monate nach der US-amerikanischen Invasion

Karin Schüttpelz

In Vorbereitung eines Berichtes zur Lage in Afghanistan und Perspektiven der Afghanistan-Politik der EU besuchte eine fraktionsübergreifende Delegation des Europäischen Parlaments Kabul, Kandahar und Mazar-i-Sharif. Sie führte Gespräche mit Präsident Hamid Karzai und anderen Regierungsvertretern, Repräsentanten der UN, der EU, der ISAF, lokalen Machtinhabern, Stammesältesten und Nichtregierungsorganisationen und besuchte das US-Hauptquartiers in Bagram. Die GUE/ NGL hatte André Brie in die Delegation entsandt. Er ist Berichterstatter des Europäischen Parlaments zu Afghanistan.
Mehr als 20 Jahre Krieg zeichnen das Bild des Landes: Die Städte – Ruinenlandschaften, Mangel an allem, was man zum Leben braucht – Wasser, Elektrizität, Ärzte, Schulen, Straßen, Telekommunikation…, die Männer – bewaffnet und arbeitslos, die Frauen – verschleiert. Ehemalige Warlords und Feldkommandeure beherrschen das Land. In Kabul gehen die Mädchen wieder zur Schule. Dieses ermutigende Bild ist aber nach wie vor untypisch für das Land. Nur 30% der afghanischen Mädchen haben eine Chance auf Schulbildung. Das Bewusstsein, dass es Menschenrechte gibt, die von der Gesellschaft gewährleistet und geschützt werden, muss erst wieder zu neuem Leben erweckt werden.
Die Themen des Besuchsprogramms drehten sich um den Aufbau der Zentralregierung, die Verfassung, die bevorstehende verfassungsgebende Versammlung, die kommenden Wahlen und die Sicherheitslage. Aber diese politische Agenda – zweifellos bedeutungsschwer und notwendig – entspricht nur sehr begrenzt den Realitäten und Herausforderungen des Landes.
Die Situation ist explosiv, geprägt durch Machtkämpfe zwischen den Machthabern in den Provinzen, diesen und der Zentralregierung und zwischen verschiedenen, zumeist ethnisch determinierten Gruppierungen innerhalb der Regierung von Karzai. Der Einfluß der Zentralregierung ist auf Kabul begrenzt, ihre Handlungsfähigkeit zusätzlich durch äußere Einflußnahme, enge finanzielle Spielräume und die Komplexität der Aufgabe marginalisiert. Die Sicherheitslage ist prekär. Die Hauptgefahr geht von den Warlords mit ihren lokalen Armeen aus, die die Zivilbevölkerung terrorisieren. Überfälle, Raub, Entführungen, Enteignungen, Selbstjustiz gehören zum Alltag in vielen Provinzen. Recht und Gesetz sind Fremdworte. Taliban und Al-Kaida-Kämpfer agieren mit Unterstützung des pakistanischen Geheimdienstes in den Grenzregionen. Die Flüchtlingslager in Pakistan sind nach wie vor Rekrutierungsbasen für terroristische Aktionen. Mit massiven Militäraktionen der amerikanischen Eliteeinheiten ist das Problem nicht zu lösen. Notwendig wäre der rasche Aufbau der afghanischen Armee und Polizei. Der steckt allerdings noch in den Kinderschuhen. Das Programm zur Entwaffnung, Demilitarisierung und Reintegration der Soldaten, das Mitte des Jahres anlaufen sollte, droht angesichts des Fehlens ziviler Alternativen zum Soldatenberuf zu scheitern. Es gibt keine tragfähigen Konzepte zur Stabilisierung der Situation. Umso lauter erschallt der Ruf nach einer Erweiterung internationaler Militärpräsenz.
Der dominierende Einfluß der Amerikaner ist allgegenwärtig. Die Arroganz der Weltmacht bestimmt ihr Handeln, ihr Instrumentarium ist die Militärmachinerie. Charakteristisch für die amerikanische Afghanistan-Politik ist, was man uns im US-Hauptquartier in Bagram als eines der strategischen Ziele der USA präsentierte: „Die Etablierung einer afghanischen Regierung, die das Recht der USA akzeptiert, jederzeit nach Afghanistan zurückzukehren, um ein Wiederaufleben des Terrorismus zu verhindern.“ Die Amerikaner destabilisieren die Situation nicht nur durch die Fortsetzung der Bombardements vermeindlicher Schlupfwinkel der Taliban und Al-Kaida-Kämpfer. Sie konterkarieren die Bemühungen zur Schaffung demokratischer Strukturen durch die Unterstützung der Warlords und anderer regionaler Machtinhaber. Mit sogenannten Provincial Reconstruction Teams – das sind Gruppen von 60-100 Armeeangehörigen unter militärischem Kommando, die Einfluß auf den Wiederaufbau in ausgewählten strategisch bedeutsamen Städten nehmen sollen – versuchen sie, die Entwicklung in den Provinzen zu lenken. Neuseeland und Großbritannien unterstützen das Konzept mit eigenen Teams. Dass die Amerikaner in Guantanamo Taliban-Krieger, Mitglieder von El-Kaida, Terroristen und solche, die sie dafür halten, unter unmenschlichen Bedingungen fernab jeglicher Rechtstaatlichkeit seit mehr als einem Jahr gefangen halten, ist allgemein bekannt. Dass es solch ein Lager auch in Bagram gibt, hat die New York Times erst vor wenigen Wochen bekannt gemacht.
Unter diesen Bedingungen sind die Bemühungen der UNO, zahlreicher Geberländer, der Weltbank und engagierter NGO, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und nationale Aussöhnung zu befördern und den Wiederaufbau in Gang zu setzen, ein Kampf gegen Windmühlenflügel im Sturm. Auf der Geberkonferenz in Tokio wurden 5,3 Milliarden US-Dollar humanitäre Hilfe und Mittel für den Wiederaufbau zugesagt. Nach Schätzungen der Weltbank wären 20 Milliarden Dollar notwendig. Die EU beteiligt sich in diesem Jahr mit insgesamt 459 Millionen Euro, die für humanitäre Aufgaben und die Finanzierung der im entstehend begriffenen staatlichen Institutionen verwendet werden. Angesichts des Bedarfes, sind das Tropfen auf den heißen Stein.
Es bedarf der langfristigen Hilfe der internationalen Gemeinschaft, um einen Stbilisierungsprozess wenigstens anzuschieben. Auch mittelfristig ist das Land auf humanitäre Hilfe angewiesen. Parallel dazu müssen Entwicklungsprojekte vorangetrieben werden. Elektrifizierung und Straßenbau befinden sich in der Planungsphase. Eine Stabilisierung der Situation wird aber erst dann beginnen, wenn mit internationaler Hilfe Entwicklungsprojekte greifen und die Menschen in ihrem Alltag Verbesserungen spüren. Es bedarf langfristiger internationaler Hilfe und Zeit, bis politische Stabilität, Demokratie, Menschenrechte und Entwicklung in Afghanistan gewährleistet sind.