Die eigentliche Krise der EU

André Brie, Beitrag für die Zeitung „Freitag“, 16. Dezember 200

Europa bleibt (vorerst?) ohne Verfassung. Zwar soll unter irischer Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2004 weiter über den vom Verfassungskonvent im Sommer vorgelegten Entwurf diskutiert werden. Dass die tiefen Differenzen aber in absehbarer Zeit ausgeräumt werden, ist mehr als fraglich.

Eine EU ohne Verfassung ist meiner Meinung nach eine EU in schlechter Verfassung. Zuviele originäre Souveränitäts- und andere wesentliche Rechte sind längst von den Staaten an die Europäische Union abgegegeben worden. Dass die Bürgerinnen und Bürger – mit Ausnahme der Direktwahl des Europäischen Parlamentes – keine individuellen, einklagbaren Rechte gegenüber den europäischen Institutionen geltend machen können und Demokratie, Parlamentarismus und Subsidiarität in dieser machtvollen Union so defizitär sind, ist ein bedrohliches Problem und ein unakzeptabler Zustand. Aber „besser keine Vereinbarung als eine schlechte“ – das war und ist eine weithin geteilte und gut begründete Meinung. Die Transparenz, Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit einer Union mit 25 Mitgliedstaaten (die sehr viel heterogenere wirtschaftliche, soziale, kulturelle und politische Verhältnisse und Interessen aufweisen wird als die bisherige Union) ist sicherlich keine Randfrage. Eigenartig jedoch, dass die Warnung vor schlechten Vereinbarungen so vehement auf die nationalen Machtverhältnisse im Rat reduziert wird, während eine Erneuerung der europäischen Integrationsidee, einer identitätsstiftenden europäischen Vision (zum Beispiel als Verteidigung und moderne Erneuerung des europäischen Sozialstaats unter den Bedingungen der Globalisierung) oder die Auseinandersetzung mit den folgenschweren sicherheits-, sozial- und wirtschaftspolitischen Weichenstellungen des Verfassungsentwurfs offensichtlich selbst in sozialdemokratischen und grünen Regierungen kein Thema ist. Es ist daher bezeichnend und folgerichtig, dass in einem Europa, dessen Idee (auch durch diesen Verfassungsentwurf) allzu sehr auf die „Idee“ des Marktes (der keine Idee benötigt) beschränkt wird, sich nationale Krämerseelen und ihr machtpolitisches Gefeilsche durchsetzen. Ein natürlich realistischer, aber zugleich visionärer Vertrag hätte es ihnen wohl sehr viel schwerer gemacht, ihn zu verhindern; er hätte auch einen ganz anderen Rückhalt in den Bevölkerungen gehabt.

Steckt die „Gemeinschaft“ nun, wie einige Kommentatoren meinten, in der „schwersten Krise seit ihrer Gründung“? Ja und Nein. Tatsache ist, dass in Brüssel einmal mehr die nationalen Interessen dominiert haben. Geht es beim Abstimmungsmodus im Rat, dem eindeutigen und weiterhin nicht in Frage gestellten Machtzentrum der EU, doch vor allem um den Einfluss in der erweiterten Union. Es ist nachvollziehbar, dass die „Kleinen“ auf gleichberechtigte Berücksichtigung ihrer Interessen neben jenen der „Großen“, wie Deutschland und Frankreich, bestehen. Mit der auf dem Nizza-Gipfel im Dezember 2000 ausgehandelten Stimmgewichtung waren Polen und Spanien – die nun als „Blockierer“ stigmatisiert werden, obwohl sie auch für andere EU-Länder sprachen – mehr als zufrieden. Hatte ihnen doch Nizza mit je 27 nahezu die gleiche Stimmenzahl wie Deutschland und Frankreich (29) zugesprochen. Mit dem im Verfassungsentwurf vorgesehenen Verfahren der so genannten doppelten Mehrheit würde diese faktische Gleichstellung wieder aufgehoben. Damit hätten die vielen kleineren EU-Staaten kaum eine Chance, sich gegen die selbst ernannten europäischen Führungsmächte durchzusetzen. Nach meiner Überzeugung wären jedoch der Schutz ihrer legitimen Interessen durchaus in den schwierigen Einklang gebracht worden mit einer gewissen Demokratisierung und den Erfordernissen effektiverer Entscheidungsfähigkeit. Tatsächlich wurden mit den Alleingängen der beiden „Großen“ vor allem in der europäischen Verteidigungspolitik und beim Zurechtbiegen des Stabilitätspaktes alle anderen EU-Mitglieder brüskiert. Und zudem: Gerade Polen wird auf lange Zeit mit den Folgen der Anpassung an das „System EU“ zu kämpfen haben, das wenig Rücksicht auf wirtschaftliche oder soziale Strukturen und Besonderheiten nimmt und polnischen Bäuerinnen und Bauern sogar noch Teile der in der Alt-EU gezahlten Subventionen vorenthält. Wer wollte Warschau verübeln, auf die wenigen verbliebenen Rechte zu pochen?

Andererseits bleibt die EU mit dem Misserfolg von Brüssel weiter unzureichend ausgestaltet für die Erweiterung. Institutionen und Mechanismen der Gemeinschaft stammen im wesentlichen noch aus ihrer Gründungszeit und sind auf eine Gruppe von sechs Staaten zugeschnitten. Bereits für die heutige Union der 15 war das administrative und verfahrenstechnische Geflecht kaum noch tauglich, ganz zu schweigen für eine künftig erweiterte Union mit über 25 Mitgliedern. „Keine Verfassung“ bedeutet natürlich, dass der Vertrag von Nizza mit seinen intransparenten, Blockadepolitik und Renationalisierung begünstigenden Regelungen für die Ratsentscheidungen in Kraft bleibt. Und das ist eine Kraft, die die Integrationsfähigkeit der EU gefährlich schwächen kann. Ein europäischer Superstaat und ein europäischer Zentralismus sind auch aus meiner Sicht ganz und gar nicht wünschenswert. Weitere wesentliche Integrationsschritte halte ich jedoch für dringend geboten. Allein die Existenz der gemeinsamen Währung in 12 EU-Staaten ohne gleichzeitig ausreichende Koordination und teilweise Harmonisierung von Steuer- und Fiskalpolitik birgt beispielsweise ein enormes Potenzial für Instabilität, Ineffizienz und begünstigt neoliberales Sozialdumping. Bei den gegenwärtigen Schuldzuweisungen darf allerdings nicht unterschlagen werden, dass es die deutsche Bundesregierung war, Gerhard Schröder und Joschkka Fischer persönlich, die bei diesem Zustandekommen von Nizza eine entscheidende Rolle gespielt hatten.

Eine Verfassung für Europa ist auch aus einem anderen Grund nötig: Nach wie vor kann in der EU von Transparenz, von demokratischer Mitsprache und Mitentscheidung, von Entbürokratisierung keine Rede sein. Auch wenn der Konventsentwurf in diesen Fragen noch weit hinter dem Möglichen und Notwendigen zurück blieb, wäre er eine wichtige Weichenstellung. Trotz Nizza, trotz Regierungskonferenzen, trotz Verfassungskonvent blieb die Modernisierung und Reformierung der EU bislang Stückwerk. Die Krise in EU-Europa ist hausgemacht und nicht erst seit der vergangenen Woche offensichtlich. Das „Europa der zwei (oder mehr) Geschwindigkeiten“ besteht ohnehin bereits in zwei grundsätzlichen Fragen (Euro und Schengen). Nun könnte es endgültig Tatsache werden. Die Konsequenzen wären meiner Meinung nach fatal: Dominanz der Großen; Sachzwänge statt demokratischer Entscheidungen; strategischste Entscheidungen und ihre politische Ausgestaltung würden jeder parlamentarischen Kontrolle entzogen werden (es sei denn man schaffte ein zweites Europäisches Parlament für dieses „Kerneuropa“); die europäische Integration verlöre vollständig ihren großen europäischen Anspruch und würde wahrscheinlich zu einer europäischen Freihandelszone verkommen; neue Spaltungen statt „europäischer Einigung“ drohten. Mit Blick auf solche Gefahren muss sehr wohl von einer tiefen Krise gesprochen werden, wenn die Neugestaltung der Europäischen Union durch einen Verfassungsvertrag in absehbarer Zeit nicht zustande kommen sollte.

In dieser Hinsicht leistet jedoch auch der vorliegende Verfassungsentwurf nur einen kleinen Teil der eigentlich notwendigen, aber von den maßgeblichen europäischen Kräften nicht gewollten Arbeit. Vielleicht war die aufgeheizte Debatte um Stimmen und Beschlussverfahren der Gipfelrunde daher ganz recht, um in deren Windschatten Entscheidungen zu treffen, die die Zukunft der EU nachhaltig beeinflussen werden: Offiziell wurde in Brüssel die neue „Sicherheits“strategie bestätigt. Nicht um Krisenprävention und friedliche Konfliktbeilegung, nicht um effiziente Entwicklungshilfe oder stabilisierende Diplomatie geht es dabei. Vielmehr soll Europa mit Rüstungsagentur, Eingreiftruppe und Planungsstab zu einer Militärmacht umgebaut werden, die weltweit zu „robusten“ Interventionen fähig ist. Und ausdrücklich soll dies nicht gegen, sondern mit der NATO und den USA geschehen – als Erfüllungsgehilfe bei der Umsetzung Washingtoner Weltinteressen. So oder mit einem Markteuropa wird es ohnehin kein „Europa“ geben, mit dem sich seinen Bürgerinnen und Bürger nachhaltig identifizieren könnten. Und das ist das eigentliche Problem: Ohne solche Identifikationsmöglichkeiten, ohne soziale Idee wird die europäische Integration für sehr viele Menschen eine fremde Vorstellung bleiben. Das ist die eigentliche, die völlig ignorierte europäische Krise, die sich aber längst an den Wahlurnen gezeigt hat und sich am 13. Juni 2004 wieder zeigen wird.