Thema EU-Verfassung: Die Union der 25 – militärisch klotzen, demokratisch kleckern? Mit dem Vertragsentwurf wird die neoliberale Grundstrategie in den Verfassungsrang erhoben

Hans Modrow

Scheitert die »Europäische Verfassung«? Die Zeichen für den EU-Gipfel am Wochenende standen auf Sturm. Gleichwohl nutzen die Mitgliedstaaten die Vorgaben des Entwurfes, um den militärischen Arm der Union zu stärken. Noch bevor die Regierungs- und Staatschefs das letzte Wort gesprochen haben, ist schon klar: Die EU wird militanter werden. Doch wird sie auch demokratischer?

Gegenüber nationalen Verfassungen weist die künftige EU-Verfassung eine geschichtlich beispiellose Besonderheit auf: Sie bezieht sich nicht – wie die französische oder das deutsche Grundgesetz – auf ein konkretes Staatsvolk. Dennoch hat sie mit den klassischen Vorläufern eines gemeinsam: Es wird das in gesellschaftlichen Umwälzungen Erreichte für längere Zeit festgeschrieben, Rahmen und Regeln für weitere Auseinandersetzungen werden durch Rechtsnormen bestimmt.
Mit veränderten inneren Reproduktionsbedingungen des Kapitalismus und nach dem Ende des realsozialistischen Versuchs in Europa haben wir es mit einer solchen Zäsur zu tun. Wissenschaftliche und technologische Umwälzungen, Informations- und Kommunikationstechnologien werden in den Marktradikalismus einfunktioniert und verstärken seine Krisenprozesse. Zerstörungen des Sozialstaates und Privatisierung der Daseinsvorsorge sind Bestandteil einer grundlegenden gesamtgesellschaftlichen antidemokratischen Entwicklungstendenz und beschleunigen sie. Politische Institutionen und Mechanismen der einzelstaatlichen repräsentativen Demokratie degenerieren unter der Herrschaft des Geldes und sind immer weniger geeignet, selbstzerstörerischen Widersinn aufzuhalten und elementare Interessen der Bevölkerungsmehrheiten in Staatspolitik zu transformieren. Autoritäre Züge der Machtausübung werden verstärkt.

Neue soziale Widersprüche

Mit der Vergrößerung der EU von 15 auf 25 Staaten etabliert sich ein Machtfaktor in neuer Dimension. Zugleich entstehen mit der Erweiterung unter den gegenwärtigen Bedingungen neue soziale Gräben, Verwerfungen, Widersprüche zwischen den mächtigsten Finanz- und Kapitalgruppierungen und neue Konfliktpotenziale, was auch die gegenwärtige Regierungskonferenz zu dem Vertrag der EU-Mitgliedstaaten über eine Verfassung der Union widerspiegelt.
Unter diesen Voraussetzungen muss ein gewisses Maß an »wirtschaftlichem, sozialem und territorialem Zusammenhalt« innerhalb der Europäischen Union gesichert werden. Eine weitere Beteiligung an der Ausbeutung der Mehrheit der Weltbevölkerung und eine Abschottung Europas gegen die Ärmsten wiederum können materielle Spielräume zur Konfliktregulierung in der »europäischen Gemeinschaft« schaffen.
Diese Ausrichtung ist eine spezifische europäische Variante der USA-dominierten neoliberalen Globalisierung. Und sie ist auf der Grundlage des gegenwärtigen Vertragswerkes der Union strukturell, faktisch und juristisch weit fortgeschritten, verfestigt und abgesichert. So wird mit der gegenwärtigen Zerstörung des Sozialstaates u. a. in der Bundesrepublik nachweisbar »Koordinierungspolitik« der Europäischen Union zum Arbeitsmarkt und zum Arbeitsrecht, zur Rentenpolitik, zum Gesundheitswesen und zur Altenpflege umgesetzt.
Insoweit steht die Europäische Union, wenn ihre Mitgliedstaaten den entworfenen Verfassungsvertrag verabschieden, nicht mehr an einem Scheideweg, sondern ihre mächtigsten Schrittmacher haben (sich) bereits entschieden. Bis hier vollzogene Umwälzungen sollen fest- und fortgeschrieben werden.
Widerspruch und Widerstand vor allem von Gewerkschaften und Bewegungen, Generalstreiks und Massendemonstrationen haben in Griechenland, Portugal, in Italien, Spanien und Österreich zumindest Aufschub und Abstriche an Elementen dieser EU-Strategie in ihren Ländern erwirken können. In der Bundesrepublik entwickelt sich Widerstand. Im europäischen Rahmen sucht und formiert sich Widerspruch und Gegenmacht aus mannigfaltigen Interessenlagen von immer mehr betroffenen Menschen.
Welche Rolle könnte dabei die Verfassung spielen?

Verpflichtung zur Aufrüstung

Der Kern des wirklich Neuen an dem Verfassungsentwurf im Verhältnis zum bisherigen Vertragswerk besteht wohl darin, dass es die Mitgliedstaaten zur militärischen Aufrüstung verpflichtet und die Bereitschaft zu weltweiten »Kampfeinsätzen im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen« fordert. Das EU-Militär könne auch »durch die Unterstützung für Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet« beitragen. (Art. I-40, Abs.3 und III-210) Angesichts des unbestimmten oder durch den USA-Imperialismus definierten »Terrorismus« ist dies eine Blankovollmacht zur militärischen Einmischung wo und in wessen Interesse auch immer in der Welt. Mit der Festschreibung einer möglichen »strukturierten Zusammenarbeit« einiger Mitgliedstaaten, die über höchste »militärische Fähigkeiten« verfügen, wird die Strategie eines »Kerneuropas« oder eines »Gravitationszentrums« der gesamten Union eben auf dem militärischen Sektor festgemacht.
Frankreich, die Bundesrepublik und Großbritannien sind bereits dabei, dieses Konzept umzusetzen. Die Union ist für »alle Bereiche« einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik zuständig, und alle Mitgliedstaaten werden zur »aktiven und vorbehaltlosen Unterstützung« dieser Politik (Art. 1-11 und 15) verpflichtet. Das legt den Gedanken nahe, dass dieser Strategie eine zentrale Funktion im gesamten weiteren Integrationsprozess in Europa zukommt. Und selbstverständlich sind mit dieser Ausrichtung weitere Einschränkungen für demokratische und soziale Spielräume programmiert.
Darüber, dass mit dieser Verfassung die gegenwärtigen neoliberalen Grundstrategien in der Wirtschafts- und Währungspolitik der EU in den Verfassungsrang erhoben und Beschäftigungs- und Sozialpolitik der »offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb« untergeordnet werden, sind sich Befürworter und Gegner des Dokuments wohl einig. Kapital und Einzelstaaten können innerhalb der Union weiter um die niedrigsten Kosten der Arbeitskraft und den zunehmenden Zwang zu Lohnarbeit unter schlechtesten Bedingungen konkurrieren.
Militarisierung, Marktradikalismus, Privatisierung sind per se antidemokratisch. Wie kann dann aber die Europäische Union mit dieser Verfassung demokratischer werden?
Die einzig demokratisch gewählte Instanz innerhalb der EU ist das Europäische Parlament, dessen Rechte zwar erweitert, aber gegenüber Organen der Exekutive noch immer eingeschränkt sind. In der Außen- und Sicherheitspolitik, bei Rüstung, Militarisierung und Militäreinsatz hat das Parlament nicht einmal Mitwirkungsrechte. Es soll regelmäßig gehört und auf dem Laufenden gehalten werden (Art. I-39). Nationale Parlamente sollen in Entscheidungsfindungen der EU besser einbezogen werden und können bei Verletzung des Subsidiaritätsprinzips beim Gerichtshof der Union klagen. Forderungen nach deutlich mehr Mitwirkungsrechten für kommunale und regionale Körperschaften und den Ausschuss der Regionen blieben im Verfassungsentwurf weitgehend unberücksichtigt, wie auch die angestrebte Aufnahme einer Charta der kommunalen Selbstverwaltung.

Keine Chance für Bürgerbegehren

Eine Million Bürger »aus einer erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten« können die Europäische Kommission auffordern, »Themen zu unterbreiten«, um einen Rechtsakt der Union anzuregen (Art. I-46). Im Unterschied zu nationalen Gesetzgebungen können nicht Lösungsvarianten für Probleme in Gesetzesform vorgeschlagen werden. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid als folgende Stufen einer Volksgesetzgebung sind nicht vorgesehen. Gegenüber dem Grundgesetz wäre diese minimale Regelung allerdings noch immer ein Fortschritt.
Der tatsächliche Grundrechtsschutz für EU-Bürger würde hinsichtlich der individuell einklagbaren Bürger- und Freiheitsrechte im Wesentlichen wie bisher durch die Europäische Menschenrechtskonvention und die Rechtsprechung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bestimmt. Die darüber hinaus gehenden Sozialnormen im Grundrechtekatalog des EU-Verfassungsentwurfs würden – wie bisher vergleichbare bzw. weitergehende soziale Grundrechte aus völkerrechtlich verbindlichen Konventionen – auch auf der Grundlage dieser EU-Verfassung nicht individuell einklagbar sein.
Umfassender und detaillierter als im bisherigen Vertragswerk ist in dem Verfassungsentwurf die Einbeziehung von »Sozialpartnern und Organisationen der Zivilgesellschaft« in die Vorbereitung und Durchführung von Entscheidungen der EU geregelt. Dazu sollen vor allem die so genannten europäischen Agenturen ausgebaut werden. »Repräsentative Verbände« sollen in geeigneter Weise in Information und transparenten Meinungsaustausch einbezogen werden. (Art. I-46) Mitwirkungs- und Mitentscheidungsrechte, Veto-Rechte für sie sind nicht vorgesehen. Da aber innerhalb dieser repräsentativen Verbände regelmäßig oligarchische Machtstrukturen bestehen, können bereits hier Widerspruch und Widerstand der Organisierten abgeschwächt, ausgegrenzt, kanalisiert und nach einzelstaatlichen Vorbildern in den EU-Beratungsstrukturen durch die Führungen unter dem Druck des ökonomisch Stärkeren schließlich in Zustimmung gewandelt werden. Aber selbstverständlich wird hier auch eine gewisse Ambivalenz dieser Bestimmungen deutlich. Dieses repräsentative Muster der Einbindung, Entgegensetzung und Spaltung von Interessen der Erwerbsabhängigen könnte durch die Emanzipation der Organisierten selbst, durch kämpferische Aktions- und Organisationsformen durchbrochen werden. Dann wären diese Bestimmungen der Verfassung zumindest nutzbar, Positionen von Gegenmacht auf der EU-Ebene zu artikulieren und weitere Einbindung zu blockieren.

Ausschluss vieler Organisationen

Die Grenzen dieser Nutzbarkeit sind jedoch im Unterhaus der Norm gleich mitdefiniert: Die Festlegung auf »repräsentative« Verbände würde den legalen Ausschluss aller Organisierten ermöglichen, die nicht »repräsentativ« sind oder die nicht den von der Europäischen Kommission definierten zivilgesellschaftlichen Status haben. Der verlangt ein Bekenntnis zum demokratischen System, Teilnahme an Diskursen und Verständigungsprozessen, »die dem allgemeinen Interesse dienen« und die schließlich »als Mittler zwischen öffentlicher Gewalt und Bürgern« fungieren. Wer hat dann die Auslegungshoheit? Arbeitslosen-, Obdachloseninitiativen, Sozialforen auf allen Ebenen, Friedensbewegungen, Abrüstungsinitiativen, Bewegungen des zivilen Ungehorsams und andere Aktionsstrukturen des Widerstandes, die nicht zum etablierten Machtgefüge gehören, werden sich nicht in ein solches Korsett zwängen lassen.
Der gesamte Verfassungsentwurf legt die Europäische Union expressis verbis auf die »repräsentative Demokratie« fest (Art. I-45). Das heißt, auf Wahlen, politische Parteien, politische Vertretungsmechanismen und -körperschaften, die bisher in der Union und innerhalb der Mitgliedsländer, selbstverständlich differenziert, durch die faktische Herrschaft des Geldes, Korruption und Fäulnis immer weniger geeignet sind, existenzielle Interessen des größten Teils der Bevölkerung in Staatspolitik umzusetzen. Diese Ausrichtung entspricht einer Festlegung in der USA-dominierten »Interamerikanischen Demokratiecharta« von 2001 auf die »repräsentative Demokratie« als einzig mögliches politisches Modell für Lateinamerika. Bei Abweichungen wird mit Sanktionen gedroht. Wer für politische Entscheidungen gegen den Marktradikalismus streitet, wird mit neuen Inhalten auch für neue Formen des Politikmachens im nationalen und europäischen Zusammenhang streiten müssen. Das Europäische Sozialforum in Paris hat dafür Signal und Anstoß gegeben.
Eine Verfassung, die sich die Menschen für ihr Zusammenleben geben, kann nur dann demokratisch sein, wenn sie im Ergebnis von Aufklärung, in breiter öffentlicher Aussprache, Widerspruch und Gegenvorschlag zustande kommt und nicht an repräsentative Zustimmung delegiert wird.
(ND 13.12.03)

Quelle:
Neues Deutschland vom 13.12.03