Vollbeschäftigung ist möglich

Ein Beitrag zum Thema Arbeitszeitverkürzung, erschienen in Neues Deutschland, 18. Juli 2003

Nimmt man die Ergebnisse der Auseinandersetzung der ostdeutschen Metaller für eine Arbeitszeitverkürzung zum Maßstab, scheint es gegenwärtig für diese Strategie keine gesellschaftlichen Mehrheiten zu geben, umso mehr Frau Merkel, Herr Clement und die Arbeitgeberverbände unisono sogar das Gegenteil fordern. Als Begründung wird angeführt, dass die hohen Lohnnebenkosten einen Wettbewerbsnachteil darstellen, der nur mit langen Arbeitszeiten aufgefangen werden kann. Ganz abgesehen davon, dass nicht die Lohnnebenkosten die entscheidende Kategorie sind, sondern die Lohnstückkosten die Effizienz der Wertschöpfung charakterisieren und sich die Bundesrepublik Deutschland hier im positiven Sinne in der Weltspitze tummelt, lässt sich diese Behauptung auch im Vergleich der volkswirtschaftlichen Daten der OECD-Statistiken nicht untermauern.
Wenn man als Ausgangspunkt den Fakt anerkennt, dass sich objektiv durch fortschreitende Automatisierung und Einsatz neuer technologischer Verfahren der Anteil der Arbeitskraft am Produktionsprozess minimiert, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man akzeptiert, dass immer weniger Menschen an der Erwerbstätigkeit teilhaben, oder man teilt die vorhandene Arbeit auf mehr Menschen auf. Wer auf klassisches Wachstum bzw. auf die Transformation zur Dienstleistungsgesellschaft setzt, betrachtet die Problemlage aus konjunktureller und nicht aus struktureller Sicht.
Die Europäische Union hat sich auf ihren Gipfeln in Lissabon und Göteborg wichtige Ziele gesetzt. Sie will die EU zur wirtschaftlich dynamischsten Region der Welt machen, Vollbeschäftigung erreichen und dies unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit, wobei darunter eine gleichmäßige öko-
nomische, ökologische und soziale Entwicklung verstanden wird.
Eine nachhaltige Umstrukturierung der Arbeit umfasst natürlich nicht nur die Senkung der Erwerbsarbeitszeit, sondern auch die Anerkennung gesellschaftlich sinnvoller, bisher aber nicht bezahlter Tätigkeiten als Erwerbsarbeit, die aus dem Steueraufkommen zu finanzieren ist, die Transformation von Eigenarbeit in entlohnte Arbeit, den Abbau von Überstunden u.ä. Im weiteren soll aber nur der Teilbereich Arbeitszeitverkürzung betrachtet werden. Vor über hundert Jahren betrug die durchschnittliche Arbeitszeit ca. 3000 Stunden pro Jahr. Bis heute hat sich dieser Wert etwa halbiert. Die Arbeitsproduktivität stieg hingegen um ein Mehrfaches, ebenso das Bruttosozialprodukt (BSP) pro Kopf. Aus der Sicht unserer Urgroßeltern arbeiten wir demzufolge heute in Teilzeit mit vielfachem Lohnausgleich, wenn man vereinfachend die Steigerung des BSP pro Kopf als groben Maßstab der Lohnsteigerung ansetzt.
Die Frage, die es zu beantworten gilt, heißt: Kann man ohne negative Auswirkungen auf die Volks- und Betriebswirtschaft die Arbeitszeit so verkürzen, dass die Arbeitslosigkeit gegen Null tendiert und ist dies im Extremfall ohne Nettolohneinbußen der Beschäftigten möglich?
Wenn die heute Arbeitslosen eingestellt würden, wächst die Nettolohnsumme. Gleichzeitig steigt jedoch die Nachfrage um einen bestimmten Wert, weil die bisherigen Arbeitslosen statt ca. 60 Prozent des Nettolohnes jetzt über 100 Prozent verfügen. Mehr Arbeitnehmer erhöhen natürlich die Produktion oder die zu erbringenden Dienstleistungen. Bliebe die Arbeitszeit konstant, überstiege die Mehrproduktion die Nachfrage, weil im günstigstem Falle die zusätzliche Kaufkraft die Differenz zwischen Arbeitslosengeld und vollem Nettolohn beträgt, jede neue Arbeitskraft jedoch 100 Prozent Produktion erbringt. Die gesamte Arbeitszeit ist demzufolge so zu verkürzen, dass der Faktor des Produktivitätszuwachses dem Faktor des Zuwachses der Nettolohnsumme entspricht.
Der Bruttolohn wird proportional der verkürzten Arbeitszeit reduziert. Die gesamte Bruttolohnsumme steigt natürlich, da mehr Menschen beschäftigt sind.
Nach den Berechnungen von J. Ebel und B. Kühn in »Ein Modell zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit durch Verkürzung der Arbeitszeit« wird nachgewiesen, dass der Anstiegsfaktor der Bruttolohnsumme gleich dem Anstiegsfaktor der Kaufkraft ist, der absolute Wert des Zuwachses des Bruttolohns allerdings die Zunahme der Kaufkraft der Arbeitnehmer übersteigt, weil ein Teil davon als Steuern abzuführen ist.
Fazit: Die Steuereinnahmen wachsen, die Sozialbeiträge verringern sich, die Unternehmen finden Absatz für ihre gesteigerte Produktion, weil die Nachfrage sowohl durch den privaten Mehrkonsum als auch gestiegener Investitionsmöglichkeit des Staates angekurbelt wurde. Damit ist die eingangs gestellte Frage eindeutig mit »Ja« beantwortet.
Natürlich sind betriebliche Besonderheiten zu berücksichtigen, da eine Gesamtrechnung keine Gültigkeit für jeden Einzelfall haben muss. Ob die Arbeitszeitverkürzung als tägliche, wöchentliche, jährliche, durch mehr Urlaub, Freistellungen oder Reduktion der Lebensarbeitszeit ausgeformt wird, sollte man keinem Dogma unterwerfen, ebenso wenig die Frage, ob voller Lohnausgleich für alle Einkommensgruppen zwingend notwendig ist.

Quelle:
http://www.nd-online.de/artikel.asp?AID=38581&IDC=10&DB=O2P