Kann die europäische Linke von Lateinamerika lernen?
Lateinamerika, seit den Zeiten der Pinochet-Diktatur in Chile ein Experimentierfeld neoliberaler Politik, verzeichnet einen bemerkenswerten Aufschwung linker Kräfte. Verstärkt richtet die europäische Linke ihren Blick nach Süden: Was kann sie von Lateinamerika lernen?
Kann die europäische Linke
von Lateinamerika lernen?
Das Forum von Sao Paulo – Schmelztiegel der Erfahrungen und alternativer Gesellschaftsvorstellungen
Lateinamerika, seit den Zeiten der Pinochet-Diktatur in Chile ein Experimentierfeld neoliberaler Politik, verzeichnet einen bemerkenswerten Aufschwung linker Kräfte. Verstärkt richtet die europäische Linke ihren Blick nach Süden: Was kann sie von Lateinamerika lernen?
In der Geschichte des Weltwirtschaftsforums hat selten das Erscheinen eines ausländischen Staatsmannes größeres Interesse gefunden als das Auftreten des neuen brasilianischen Präsidenten Lula da Silva. Der von einer breit gefächerten linken Bewegung gestützte ehemalige Gewerkschaftsführer geißelte vor den Spitzen aus Wirtschaft, Politik und Geistesleben die verheerende Auswirkungen der Globalisierung, die nirgends deutlicher zu spüren sind als in Lateinamerika. Zugleich regt und formiert sich hier, stärker als anderswo, der Widerstand gegen Ausbeutung, Verelendung und Diskriminierung. Dieser Widerstand hat viele Facetten. Die Wahlsiege der Präsidentschaftskandidaten der Linksopposition in Brasilien und Ekuador, der Kampf um die Verteidigung der bolivianischen Revolution in Venezuela sind dafür ebenso ein Indiz wie die Bewegung der indigenen Völker in Mexiko oder der Landlosen in Brasilien.
Reflex auf Agonie des Sozialismus in Europa
Bei aller Unterschiedlichkeit der konkreten Situationen sind die Völker Lateinamerikas mit global wirkenden Prozessen konfrontiert, die auch auf anderen Kontinenten, auch in Europa immer stärkere Auswirkungen haben. Nicht zuletzt deshalb zeigen Linksparteien aus aller Welt ein wachsendes Interesse an den Beratungen des Forums von Sao Paulo, einem losen Zusammenschluss sozialistischer, kommunistischer, sozialdemokratischer und anderer progressiver Parteien und Bewegungen. Das Forum, das sich nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus in Europa gründete, tagte im Dezember vorigen Jahres in Guatemala zum 11. Mal. Die Parteien, die in der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken / Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) des Europäischen Parlaments vertreten sind, stehen seit mehreren Jahren in einem Gedankenaustausch mit den lateinamerikanischen Partnern, der sich in jüngster Zeit intensiviert. Deshalb war es auch folgerichtig, dass eine repräsentative
Delegation der Fraktion an den Beratungen in Antigua teilnahm.
Das Panorama der Linkskräfte in Lateinamerika ist keineswegs homogen, was sich auch in der Zusammensetzung des Forums widerspiegelt. Es vereint Parteien mit unterschiedlicher Entwicklungsgeschichte und Tradition, unterschiedlichen Kampfformen und ideologischen Standorten, Vertreter unterschiedlicher politischer Stile und gesellschaftlicher Sektoren bis in die Mittelschichten und Kreise der kleinen oder mittleren Unternehmer hinein. Das Forum von Sao Paulo ist die zahlenmäßig größte und ideologisch breiteste Gruppierung linker Parteien in der Welt. Die Frage, ob der Pluralismus tragfähig für die politische Einheit sein kann oder ob er zur Blockade führen muss, wird erst aus der konkreten Entwicklung heraus zu beantworten sein.
Breitestmöglicher Konsens für eine Gesellschaftswende
Als ihre grundlegende Gemeinsamkeit in der Gegenwart bezeichnen die Parteien des Forums den „Kampf gegen den Imperialismus, der in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Form des neoliberalen Kapitalismus angenommen hat“, wie es im Abschlussdokument des IX. Treffens im Jahre 2000 in Managua heißt. In seinem Bekenntnis zu einer „gerechteren Gesellschaft, die sich von der gegenwärtigen unterscheidet“, trifft sich das Forum mit dem Credo des Weltsozialforums von Porto Alegre: „Eine andere Welt ist möglich“, doch sind dies beileibe nicht die einzigen Berührungspunkte.
Mehrheitlich setzen die Parteien des Forums nicht auf radikale Umbrüche, sondern orientieren auf die allmähliche, schrittweise Überwindung des gegenwärtig praktizierten Gesellschaftsmodells als die einzige Form zur Rettung der Menschheit vor der sicheren Selbstvernichtung. Sie setzen sich für eine Entwicklungswende in ihren Ländern ein, die eine Alternative zum neoliberalen Marktradikalismus und zur Herrschaftsstrategie der USA in Lateinamerika eröffnet, die Gestaltungsmöglichkeiten des Staates wiederherstellt. Eine solche Wende kann nur auf einem breitest möglichen Konsens von Interessen an einer nationalen und regionalen Entwicklungsstrategie für Demokratie und wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Fortschritt beruhen. Forderungen also, an denen sich auch in Europa der Protest der globalisierungskritischen Bewegung festmacht, wie er jüngst hunderttausendfach in Florenz zum Ausdruck kam.
Neoliberale Öffnung spitzt soziale Konfikte zu
In das dritte Jahrtausend ist Lateinamerika mit schärfsten politischen und sozialen Konflikten eingetreten. Die jahrzehntelange Praktizierung der neoliberalen Doktrin hat die produktiven Strukturen und die sozialen Beziehungen schwer geschädigt und massenhafte Verarmungsprozesse ausgelöst. Die neoliberale Öffnung der Wirtschaften führte auf Grund mangelnder Wettbewerbsfähigkeit zu einer weitgehenden Vernichtung einheimischer Industrien, zu verheerender Umweltzerstörung und zum massiven Verlust von Arbeitsplätzen. Kindersterblichkeit, Kinderarbeit, Marginalisierung von Millionen Jugendlichen, Prostitution als Überlebenshilfe, Armutskrankheiten, Kriminalität breiten sich aus. In vielen Ländern sind Anzeichen einer gesellschaftlichen Desintegration festzustellen. Als Reflex darauf wachsen die sozialen Proteste an, aber auch autoritäre Tendenzen, Repression und Einschränkung der Demokratie nehmen zu, nicht nur in Kolumbien, das zum offenen Kriegsschauplatz geworden ist. Unübersehbar wächst die Bereitschaft der USA zum militärischen Eingreifen, wie in Kolumbien bereits praktiziert.
Unter diesem unerträglichen Problemdruck treten in vielen Ländern soziale Massenbewegungen auf den Plan, die oft weitgehend autonom von linken Parteien agieren, neue Bündnisse herstellen und Mobilisierungen für einen Wandel auslösen. Sie formieren sich um konkrete Problemstellungen, zur Verhinderung weiterer sozialer Verschlechterungen, für Überlebensfragen der Bevölkerung der Kommunen, für Land und Arbeit. Sie reichen von den zapatistischen und anderen indigenen Gemeinden bis zu den Landlosenbewegungen in vielen Ländern, die sich bereits vernetzt haben, von den Gewerkschaften bis zur bolivarianischen Bewegung zur Unterstützung der Reformen von Präsident Chávez in Venezuela und zur demokratischen Bewegung in Kolumbien, die unter Lebensgefahr für zivile Konfliktlösungen und soziale Forderungen kämpft.
USA verfolgen Kurs der „Globokolonialisierung“
Nicht nur die verstärkte wirtschaftliche Abhängigkeit, insbesondere die Auslandsverschuldung, die sich seit 1990 auf fast 900 Mrd. Dollar verdoppelt hat, sondern auch die Anwendung neuer politischer Herrschaftsformen unterwerfen die Länder dem Diktat der internationalen Wirtschaftsorganismen unter der Führung der USA. Die lateinamerikanischen Linksparteien sprechen von einer „Globokolonisierung”, einer Einschränkung der politischen Unabhängigkeit der Länder in fast kolonialen Formen. Das Beispiel Argentinien zeige „unserem Amerika und der ganzen Welt, wie die Unterwerfung unter die gegenwärtige Politik der Organe der Weltmacht in die Katastrophe führt und dass die Lösungen für unsere Völker auf dem diametral entgegengesetzten Weg gesucht werden müssen”. Aus diesem Grund lehnen sie auch einhellig das Projekt einer von den USA vorangetriebenen gesamtamerikanischen Freihandelszone (ALCA) als Annexionsplan ab und setzen dem die Forderung nach einer alternativen Integration, die die politischen und sozialen Aspekte berücksichtigt, entgegen.
„Das militärische Pendant zur ALCA ist das Kapitel Intervention im Plan Colombia”, heißt es im Hauptdokument des XI. Treffens der Parteien und Bewegungen des Forums, das den Abbruch der Friedensgespräche in Kolumbien durch die Regierung verurteilt. Die Militarisierung und wachsende Aggressivität der USA-Politik sehen die lateinamerikanischen Linksparteien als große Gefahr für die sich entwickelnden alternativen Bestrebungen auf ihrem Kontinent, aber darüber hinaus verstehen sie die Kriegspolitik der USA zur Durchsetzung ihrer uneingeschränkten Herrschaft und Verfügung über die Ressourcen der Welt als Bedrohung der Zukunft aller Völker. Der Kampf für den Frieden, heißt es in den jüngsten Dokumenten des Forums, ist deshalb in der Gegenwart ein vorrangiges Ziel, die Parteien rufen dazu auf, „zu diesem Zweck die breiteste internationale Bewegung zu entwickeln”.
Starke Betonung der Individualität
Die alternativen Gesellschaftsvorstellungen, an denen seit Mitte der 90-er Jahre gearbeitet wird, beinhalten folgende Grundelemente:
– Umkehrung des Prozesses der fortschreitenden Zerstörung der produktiven Potentiale in der Mehrheit der Länder und die Durchführung von Strukturreformen, die die Entwicklung insbesondere der verarbeitenden Industrie und der Landwirtschaft stimulieren; dabei werden neben Veränderungen in der Finanz-, Kredit- und Handelspolitik zugunsten kleiner und mittlerer Betriebe, der Förderung einer eigenständigen technologischen Entwicklung und der gesetzlichen Regelung ausländischer Investitionen insbesondere die Dringlichkeit der Schaffung von Arbeitsplätzen und von Maßnahmen auf den Gebieten der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsrechts sowie der Umwelterhaltung genannt.
– Kontrolle und Eindämmung der Finanzspekulation und die Revision der Zahlungsverpflichtungen aus den Auslandsschulden; dazu sollen die Zusammenarbeit zwischen den Ländern der Region bzw. die bestehenden Integrationsbeziehungen genutzt werden.
– Dezentralisierung und Demokratisierung auf allen Gebieten, Schaffung von Möglichkeiten der gesellschaftlichen Beteiligung an der Entscheidungsfindung, -fassung und -durchführung. Die Überwindung von Klientelismus und Korruption werden als vorrangige Probleme der Modernisierung des Staates angesehen.
– Dringlichkeitsmaßnahmen zur Abwendung des sozialen Notstandes, vor allem im Gesundheits- und Bildungswesen, in der Wohnungsfrage und zur sozialen Absicherung der bedürftigsten Bevölkerungsschichten.
– Beseitigung jeder Art von Diskriminierung in der Gesellschaft, wofür die Initiativen und die Mitwirkung der vielfältigen emanzipatorischen Bewegungen besonders benötigt werden.
Die Vorstellungen der lateinamerikanischen Linken zeichnen sich durch einige Züge aus, die in den Programmen der traditionellen Linken bisher gewöhnlich zu kurz kamen, so die Betonung der Individualität, die Analyse gesellschaftlicher Zustände aus der Sicht und Lage des weiblichen Teils der Bevölkerung, die Aufnahme des Problems der Umweltbewahrung und der ökologischen Nachhaltigkeit in die Überlegungen und anderes mehr.
Die Dokumente des Forums reflektieren unterschiedliche Meinungen unter den Mitgliedern, ob diese Ziele angestrebt werden sollen, indem man sich in das bestehende politisch-institutionelle System „hineinbegibt“, oder durch Widerstand und prinzipielle Opposition – auch dies eine für die linken Parteien in Europa praktische Fragestellung. Man verweist dabei auf die große Unterschiedlichkeit der Situation in den einzelnen Ländern und überlässt die Entscheidung den nationalen Kräften. Jüngste reale Entwicklungen in den Ländern zeigen, dass es dafür kein „entweder-oder” gibt, sondern beide Formen zusammenwirken.
Statt alter Dogmen sind Zukunftsvisonen gefragt
Das Scheitern bisheriger Modelle zur Gesellschaftsveränderung – des sozialistischen wie des sozialdemokratischen – hat nicht die Notwendigkeit beseitigt, die gegenwärtigen gesellschaftlichen Strukturen zu überwinden – im Gegenteil. Nicht nur der überwältigende Wahlerfolg von Lula in Brasilien deutet darauf hin, dass Sektoren der Bevölkerung weit über die Linke und ihre traditionelle Wählerschaft hinaus bereit sind, eine alternative Gesellschaftspolitik zu unterstützen. Für linke Parteien und Bewegungen ist die Mobilisierung des Widerstandes und die feste Verbindung mit den Massenbewegungen, wie zum Beispiel mit dem Weltsozialforum von Porto Alegre, die Grundvoraussetzung, alternative Politik zum Erfolg zu führen – von der lokalen über die regionale Ebene bis zur Regierungsverantwortung. Es geht um ein neues Projekt des Wandels, dessen Wege schrittweise erschlossen werden müssen und dessen Erfolg offen ist, weil er zum großen Teil von der Mobilisierungsfähigkeit der alternativen Bewegungen abhängt.
Charakteristisch für die Dokumente der Treffen des Forums von Sao Paulo ist die gemeinsame, präzise Analyse des gegenwärtigen globalen Kapitalismus und der gefährlichen, zerstörerischen Auswirkungen seiner Krise. Mehrheitlich ist man sich der Tatsache bewusst, dass alte linke Dogmen keine Antwort für die Probleme der Zukunft geben. Das ist keine Absage an die Theorie – im Gegenteil. Man geht davon aus, dass die verbreiteten politisch-ideologischen Positionen des Neoliberalismus theoretische Antworten und Widerlegungen erfordern. Das gilt insbesondere für den aktuellen Kampf in Lateinamerika gegen die Armut und die Hinterhofpolitik der USA, das gilt aber genau so für eine über den Kapitalismus hinaus gehende Suche nach einer sozialistischen Zukunftsvision.
Zeit ist reif für höhere Stufe der Kooperation
Vielleicht ist es noch zu früh, von einer „Neuzeit der Linken” zu sprechen, doch die Impulse, die von Lateinamerika ausgehen, sollten für die europäische Linke ermutigend sein. Innere Debatten, Rückschläge und schlechte Ergebnisse bei Wahlen setzen Zeichen und stellen Anforderungen – das gilt namentlich für die PDS, aber auch andere west- und nordeuropäische linke Parteien. Wenn die linken Parteien unseres Kontinents nicht hinter den historischen Anforderungen am Beginn des 21. Jahrhunderts zurückbleiben wollen, müssen sie für ein solidarisches Miteinander und eine höhere Stufe ihrer Kooperation anstreben. Die aktuelle Bedrohung des Friedens, die immer brutaleren Auswirkungen des globalen Kapitalismus, der für das Überleben der Menschheit notwendige Kampf um soziale Gerechtigkeit erfordern ein gemeinsames Nachdenken über Sozialismus. Dieses Nachdenken duldet auch in Europa keinen weiteren Aufschub.
Dr. Helma Chrenko ist Lateinamerikawissenschaftlerinund Vizepräsidentin der Entwicklungspolitischen Gesellschaft. Hans Modrow befasst sich als Mitglied des Entwicklungsausschusses im Europaparlament mit den Problemen Lateinamerikas.
Quelle:
Tageszeitung