Im Gespräch: Andre Brie (PDS), Afghanistan-Berichterstatter des Europäischen Parlaments,
FREITAG: Der afghanische Präsident Karzai hat am 24. Oktober bei der Waffenabgabe von etwa 1.000 Milizionären im Sportstadion von Kundus von einem guten Tag für Afghanistan gesprochen, dem in den nächsten drei Jahren weitere folgen sollen, wenn 100.000 Milizionäre ihre Waffen abgeben. Eine realistische Erwartung oder Zweckoptimismus?
ANDRE BRIE: Ich sehe das weitaus kritischer als Karzai. Diese Waffenabgabe vom 24. Oktober hatte einen symbolischen Wert, aber keinen realen. In Wirklichkeit werden die Milizen weiter aufgerüstet – mit Unterstützung vor allem der USA und anderer Staaten. Sicher wäre es technisch möglich, 100.000 Afghanen zu entwaffnen und zu reintegrieren, nur muss es dazu den politischen Willen der Vereinigten Staaten geben, die augenblicklich die Warlords eher halten oder zumindest tolerieren – ungeachtet der Tatsache, dass sich deren Armeen zunehmend aus dem Drogengeschäft finanzieren. Deswegen sehe ich dieses »Afghan New Beginnings Programme (ANBP)«, zu dem Kundus der Auftakt sein sollte, sehr, sehr skeptisch.
Wenn die Amerikaner so verfahren, wie Sie sagen, unterlaufen sie die Zentralmacht von Präsident Karzai – wo liegt da die politische Logik?
Scheinbar ist das paradox, wenn die Amerikaner mit ihrer Politik gegenüber den Warlords ihren Mann in Kabul gefährden, den sie gerade durch die neue Verfassung stärken wollen – sie gefährden ihn sogar akut und damit die Stabilität des Landes. Ich kann mir das nur damit erklären – auch wenn das vielleicht etwas verschwörungstheoretisch klingt –, dass die Bush-Regierung Konflikte und Instabilität in Afghanistan braucht, um ihre Anti-Terror-Politik – inklusive der ungeheuren Waffenprogramme – zu legitimieren und durchzusetzen.
Sie haben in Kabul mit General Gliemeroth, dem Oberkommandieren der ISAF-Truppen, gesprochen. Wie sieht er das?
Der hat sich dazu sehr diplomatisch geäußert, aber mein Eindruck ist schon, dass es bei ISAF eine andere Strategie als bei den Amerikanern gibt.
Inwiefern?
ISAF selbst wird größte Anstrengungen unternehmen – und die nehme ich ernst –, bis Februar 2004 bei den schweren Waffen, zumindest im Raum Kabul, für eine Abrüstung zu sorgen. Das halte ich für aussichtsreich, nur wird es nichts an der Gesamtsituation ändern, da die aktuellen oder potenziellen Spannungsherde nicht im Umfeld der Hauptstadt, sondern im Norden und im Süden und nicht zuletzt im Gebiet von Herat, liegen.
Welchen militärischen Sinn hat dann die Verlegung von Bundeswehreinheiten nach Kundus im Norden oder von ISAF-Formationen anderer Länder, die über Kabul hinaus disloziert werden?
Ich glaube, es gibt auch hier unterschiedliche Auffassungen zum Konzept der sogenannten »Provincial Reconstruction Teams« (PRTs). Die Amerikaner wollen sich etwas zurücknehmen, die Lasten der Militärpräsenz in Afghanistan mehr als bisher auf andere Staaten verteilen, ansonsten aber in den Provinzen grundsätzlich nichts ändern. Einige europäische Staaten und die UNO wollen dagegen versuchen, die Warlords durch ein Abrüstungsprogramm zu entmachten oder wenigstens Voraussetzungen zu schaffen, dass es dazu kommt.
Ich glaube allerdings, dass man dabei einen falschen Weg einschlägt, wenn es zu derart widersinnigen Aktionen kommt wie dem Einsatz von PRTs der Bundeswehr in Kundus. Dort handelt es sich einerseits um eine relativ stabile Region, andererseits um ein Zentrum des Drogenanbaus und -handels. Und dazu hat bekanntlich der Bundestag beschlossen, dass man sich nicht einzumischen habe …
… und so wirkungslos bleibt.
Nicht nur das, man setzt sich auch der Gefahr aus, Spielball der Warlords und dadurch erst recht verwickelt zu werden. Unter derartigen Umständen lässt sich für die afghanische Bevölkerung nichts tun, lediglich die eigenen Soldaten werden gefährdet.
Wie groß sind die Chancen, dass es zu den für 2004 vorgesehenen Wahlen kommt?
Es ist eine Konsequenz des Bonner Petersberg-Abkommens vom Dezember 2001, dass nicht klar definiert worden ist, welche Wahlen 2004 stattfinden sollen. So wird es zunächst nur eine Präsidentenwahl geben, nur sollte man nicht glauben, dass dadurch die Heterogenität des Landes überwunden wird und faktisch über Nacht demokratische Strukturen entstehen. Dahinter steckt ein eindeutiges Interesse der Amerikaner: Sie wollen Karzai und nicht mehr. Bush möchte vor der Präsidentschaftswahl in den USA einen Erfolg vorweisen: die Wahl des Staatschefs in Afghanistan. Und die soll ein Mann gewinnen, den die Amerikaner voll und ganz kontrollieren. Ich war jetzt erneut im Präsidentenpalast von Kabul und habe gesehen, dass sich das Umfeld Karzais wesentlich aus Amerikanern rekrutiert. Der Präsident Afghanistans wird nicht von afghanischen Sicherheitskräften, sondern von amerikanischem Personal bewacht.
Im Sommer, als wir auch den US-Oberkommandierenden, Generalleutnant Vines trafen, hatte der während eines Briefings unumwunden verkündet, das entscheidende Ziel der USA sei es, eine afghanische Regierung zu installieren, von der sicher ist, dass sie die Amerikaner jederzeit wieder ins Land holt, wenn es notwendig sein sollte. Wortwörtlich.
Dafür steht Karzai.
Eindeutig Karzai und kein Parlament. Das könnte allerdings auch zur Spielwiese der Warlords werden. Wenn also die internationale Gemeinschaft in Afghanistan demokratische Verhältnisse will, dann muss sie sich für einen Präsidenten einsetzen, der durch Checks und Balances unter demokratischer Kontrolle steht. Dazu müssten 2004 zeitgleich Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stattfinden. Das ist jedoch – und damit schließt sich der Kreis – ohne vorherige oder parallele Abrüstung der Warlords kaum denkbar.
Gibt es denn überhaupt Parteien, die zu Parlamentswahlen antreten würden?
Ich habe zu meinem Erstaunen demokratische Kräfte kennen gelernt, von denen man normalerweise gar nicht annimmt, dass sie existieren. Sie haben teilweise landesweite Strukturen, was mich positiv überrascht hat. Die brauchten gerade jetzt eine Chance.
Um noch einmal auf das erweiterte ISAF-Mandat zurückzukommen, Sie waren im Norden, vor allem im Raum von Mazar-I-Sharif und haben dort direkt mit dem Usbeken-General Dostum gesprochen, einem der mächtigsten Warlords.
Wie sieht er die PRTs?
In Mazar-I-Sharif liegt bereits ein britisches PRT, über das sich Dostum öffentlich positiv äußert. Er beteuert ständig, kooperieren zu wollen. Praktisch ist es aber so, dass er neue Waffen beziehen kann und ihn dabei niemand stört. Jüngst sind auf Weisung von Präsident Karzai der Gouverneur und der Polizeichef der Provinz ausgetauscht wurden, was Dostum gewiss unangenehm war, zumindest, was den Polizeichef anging – das war ein Mann von ihm. Gravierende Konsequenzen hat das nicht, da Dostums Spielraum davon unberührt bleibt.
Diese Machtfülle offenbart sich dann auch in einer Art Selbstjustiz.
Es ist tatsächlich so, dass der General etwa 100 Kilometer von Mazar-I-Sharif entfernt eine Art Privatgefängnis in Sherberghan unterhält. Der Begriff ist allerdings ist nicht ganz korrekt, weil die USA haben dort die meisten Gefangenen selbst verhört haben. Sie hätten auch jetzt alle Möglichkeiten, dort einzugreifen. Stattdessen haben sie mehr als 120 Häftlinge nach Guantanamo deportiert. Ich gehe davon aus, wenn im November 2003 – zwei Jahre nach dem Sturz der Taleban – weiterhin über 1.000 Gefangene in Sherberghan sitzen, dann geschieht das, weil die Amerikaner es so wollen. Das ist ein internationaler Skandal, der zu Lasten der Vereinten Nationen geht, die für das Protektorat Afghanistan faktisch die Verantwortung tragen, vor allem aber zu Lasten der USA, die in diesem Protektorat die reale Macht besitzen, aber keinerlei Anstalten machen, nach rechtsstaatlichen Grundsätzen zu handeln.
Wird den Sträflingen von Sherberghan inzwischen der Status von Kriegsgefangenen zugebilligt?
Es gibt lediglich eine Betreuung durch das Internationale Rote Kreuz, das Kontakte mit den Familien ermöglicht. Ansonsten werden weder Verfahren eröffnet, noch wird diesen Menschen der Status von Kriegsgefangenen zuerkannt, wie das nach den Genfer Konventionen geboten wäre.
Wie sind die Haftbedingungen?
Die gefangenen Afghanen sitzen dort in einem Block von vielleicht 30 Meter Länge – auf engem Raum leben 450 Häftlinge. Die Pakistani sind in einem zweiten Block unter etwa gleichen Bedingungen interniert. Das Hauptproblem für mich ist das Fehlen aller rechtlichen Standars.
Konnten Sie direkt mit den Gefangenen sprechen?
Die Afghanen standen alle am Gitter, als ich kam, haben dann aber jedes Gespräch verweigert. Anders die Pakistani, die mir erklärt haben, es gäbe jetzt eine weitgehend normale Behandlung, was vor allem bedeute, dass sie nicht mehr gefoltert würden, wie das nach ihrer Gefangenennahme der Fall war, und dass sie Kontakt mit ihren Familien hätten. Aber es werden eben nach wie vor Mindestnormen des Völkerrechts missachtet, was in Sherberghan besonders für ehemalige Kommandeure gilt, etwa 45 an der Zahl, von denen mir einer sagte, er fühle sich zwar jetzt fair behandelt, aber ein Prozess sei nicht in Sicht.
Das bedeutet?
Dieser Mann war darauf eingestellt, bis zu seinem Lebensende dort interniert zu bleiben. Die Pakistani dagegen waren optimistischer und hofften, demnächst frei zu kommen. Es handelt sich bei ihnen fast nur um Leute, die nach dem 11. September 2001 und kurz vor dem Fall der Taleban nach Afghanistan gingen, als es in den islamischen Ländern hieß, man müsse das Land gegen die heraufziehende Invasion der Amerikaner verteidigen. Es spricht einiges dafür, dass man diese Gefangenen als Faustpfand hält, um Druck auf Pakistan ausüben zu können – was schändlich wäre, sollte es zutreffen.
Was tut die pakistanische Regierung?
Sie bemüht sich, diese Leute frei zu bekommen, bisher vergeblich. General Dostum hat mir gesagt – ich weiß nicht, ob das der Wahrheit entspricht – er sei jederzeit bereit wäre, die Gefangenen der UNO oder der Zentralregierung zu übergeben.
Wie kam es überhaupt dazu, dass Sie in dieses Gefängnis hinein kamen?
In Gegenwart von mehreren Europa-Parlamentariern und Diplomaten hatte ich Dostum bei meiner letzten Afghanistan-Reise im Juni direkt auf diese Gefangenen hin angesprochen – und da bot er an, beim nächsten Mal könnte ich sie sehen. Also habe ich ihn einfach erinnert und beim Wort genommen.
Das Gespräch führte Lutz Herden