Gefährliche Sicherheit

André Brie, Kolumne Disput, Dezember 2003

Auf ihrem jüngsten Gipfeltreffen haben die europäischen Staats- und Regierungschefs die Verfassung der Europäische Union scheitern lassen. Monatelang wurden in den politischen Gremien und den Medien Debatten über die Stimmgewichtung im Ministerrat geführt. Europa ist ein Markt. Kein Wunder, dass Krämerseelen und nationales Gefeilsche die EU beherrschen. Natürlich ist es wichtig, dass die kleinen Staaten und die Neumitglieder im eigentlichen EU-Entscheidungsgremium ihre Interessen gegenüber den „Großen“ wie Deutschland und Frankreich gleichberechtigt vertreten können. Völlig in den Hintergrund geriet bei der Diskussion um Bevölkerungszahlen und administrative Fragen aber ein Kapitel des Verfassungsentwurfs, das für die Zukunft Europas weit gravierendere Folgen haben wird als Stimmenanteile oder die Größe der Brüsseler Kommission: die Militarisierung der EU.
Es ist für mich keine Frage, dass eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU, die diesen Namen auch verdient, notwendig ist. Dafür gibt es gute Gründe: Erstens haben die europäischen Staaten objektiv wichtige gemeinsame Interessen in der internationalen Arena, die aus ihrer geografischen Lage, ihren kulturellen und politischen Traditionen, ihren wirtschaftlichen Kontakten und spezifischen Beziehungen zu anderen Regionen der Welt resultieren. Dies betrifft zum Beispiel Osteuropa, zu dessen Staaten die Europäer ein kooperatives Verhältnis anstreben, während sie von Washington nur dann wahrgenommen werden, wenn sie für die US-Politik von Interesse sind. Zweitens wird Europa ohne eine eigene Außenpolitik in der Welt immer weniger Gehör finden. Das geflügelte Wort von der EU als ökonomischer Riese und politischer Zwerg würde dann auch in internationalen Organisationen, bei multilateralen Verhandlungen oder der Krisenprävention und -beilegung zu einer kaum noch rückgängig zu machenden Realität. Drittens schließlich, und dies ist gerade heute von immenser Bedeutung, kann nur eine geschlossen auftretende EU dem aggressiven Unilateralismus Washingtons in der Welt eine Alternative entgegen setzen.
Es war – und ist – nicht zuletzt das Fehlen eines gemeinsamen Vorgehens der Europäer, das den USA ihre weltweite Gewaltpolitik ermöglicht. Erinnern wir uns: Als sich Frankreich, Deutschland und Russland gegen den Irak-Krieg stark machten, haben einige EU-Miglieder Washington demonstrativ unterstützt und den Angriff so mit ermöglicht. Erinnern wir uns: Als die USA offen zur Unterhöhlung des internationalen Strafgerichtshofs (dessen Schaffung von den Europäern übrigens stark forciert wurde) ansetzten und Sonderrechte für ihre Militärs forderten, sah die EU darüber hinweg. Selbst als die Bush-Administration mit „Zwangsmaßnahmen“ gegen europäische Staaten, die sich diesen Forderungen nicht beugen wollten, drohte, schwieg die „Gemeinschaft“. Erinnern wir uns: Als die UNO in den US-Kriegen delegitimiert, ihre Charta offen gebrochen, ihre Bedeutung als Weltorganisation vom Wohlverhalten gegenüber dem Weißen Haus abhängig gemacht wurde, beschränkte sich EU auf halbherzige Äußerungen der „Besorgnis“.
Dabei liegt die eigentliche Geburtsstunde der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU bereits über ein Jahrzehnt zurück. Erstmals war im Maastrichter Vertrag von 1992 die Rede von der Zusammenführung der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Mit den EU-Verträgen von Amsterdam (1997) und Nizza (2000) wurde dieser Bereich stetig ausgebaut. Immer weniger ging es allerdings um Politik, sondern zunehmend um den Aufbau militärischer Kapazitäten. Der 11. September und der von den USA ausgerufene „Krieg gegen den Terror“ boten ein günstiges Umfeld für diese Entwicklung. Was heute unter dem klangvollen Titel „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt“ als EU-Sicherheitsdoktrin ausgegeben und auf dem Brüsseler Gipfel abgesegnet wurde, ist nichts anderes als der Versuch, sich in eine weltweit agierende Militärmacht zu wandeln. Europäische Rüstungsagentur, schnelle Eingreiftruppe, gemeinsamer Planungsstab und die Fähigkeit zu „robusten“ militärischen Interventionen sind die Stichworte dabei.
Natürlich wurde dieser Prozess von Washington argwöhnisch beäugt. Noch in den letzten Tagen vor dem Verfassungs-Gipfel ließen die US-Minister Rumsfeld und Powell keine Gelegenheit aus, um die Europäer vor „Alleingängen im Militärbereich“ zu warnen. Nicht um die Sorge vor einer Militarisierung der Politik geht es dabei, sondern um die Sicherung der amerikanischen Führungsrolle in der NATO. An der Reaktion aus Brüssel wird die Ambivalenz der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik deutlich: Trotz des Aufrüstungswillens beeilten sich die EU-Vertreter zu erklären, man wolle keinesfalls die Allianz gefährden oder gar ersetzen. Im Klartext bedeutet dies, dass der „militärische Flügel“ der Europäischen Union bewusst zu einem Hilfsinstrument zur Umsetzung der US-Politik gemacht wird.
Ich halte die Orientierung auf europäische militärische Kapazitäten in jeder Hinsicht für falsch, zumal die Möglichkeiten ziviler und präventiver Sicherheitspolitik nicht einmal ansatzweise durch die EU genutzt werden. Dazu gehören beispielsweise eine auf Konfliktprävention ausgerichtete Entwicklungspolitik, die humanitäre Hilfe, aber auch die Unterstützung in der Verwaltung, im Rechtswesen und bei der Polizei – die nach UN-Untersuchungen in Krisenregionen stabilisierender wirkt als Armeeeinheiten. Es ist bezeichnend, dass die Mitgliedsstaaten der EU gerade einmal 5.000 Polizeibeamte für internationale Einsätze zur Verfügung stellen, aber insgesamt 60.000 Mann für die militärische Eingreiftruppe bereit halten (weitere 60.000 sollen sie nach einem halben Jahr ablösen können).
Die derzeitige „Sicherheitspolitk“ der EU ist kontraproduktiv und wird weiter dazu beitragen, internationale Politik, sicherheitspolitisches Denken und Handeln zu militarisieren sowie die militärische Schwelle in internationalen Konflikten und in der Politik zu senken. Sie unterstützt letztlich den Kurs der USA, internationales Recht durch das „Recht“ der militärischen Dominanz zu ersetzen. Und nicht zuletzt würde sie den europäischen Volkswirtschaften die in der Wirtschafts-, Sozial- und Bildungspolitik dringend erforderlichen Ressourcen entziehen. Man sollte die europäische „Sicherheitsstrategie“ wie Zigarettenschachteln mit einem Warnhinweis versehen: Diese Politik ist tödlich.