Wie Europa Terrorristen erfindet
Artikel von Andreas Wehr erschienen in der Ausgabe 12/2002 der Zeitschrift disput
Dass die Konten von unter offensichtlichem Terrorismusverdacht stehenden Organisationen und Einzelpersonen eingefroren werden müssen, und zwar weltweit, dagegen hätte wohl kaum jemand etwas Ernsthaftes einzuwenden. Bereits einen Tag nach den Anschlägen in den USA hatte der UNO-Sicherheitsrat in seiner Resolution 1373 vom 12. September 2001 deshalb beschlossen, „unverzüglich Gelder und sonstige finanzielle Vermögenswerte oder wirtschaftliche Ressourcen von Personen, die terroristische Handlungen begehen, zu begehen versuchen oder sich an deren Beteiligung beteiligen oder diese erleichtern“ einzufrieren. Doch was zunächst als durchweg gerechtfertigter und angemessener Kampf gegen den Terrorismus gesehen werden konnte, erweist sich heute, nach mehr als anderthalbjähriger Erfahrung mit diesem Instrument, als in Einzelfällen problematisch und sogar als politisch höchst brisant. Denn wer entscheidet letztlich darüber, wer unter Terrorismusverdacht steht? Und an wen kann sich der Verdächtigte wenden, wenn er sich zu Unrecht verdächtigt fühlt?
Diese Fragen stellten sich auch Anfang des Jahres drei in Somalia geborene schwedischen Staatsbürger. Abdirisak Aden, Abdulaziz Abdi Ali und Yusaf Ahmed Ali hatten gemeinsam, dass sie ihr Geld einem internationalen Bankennetzwerk unter dem Namen Al Barakaat anvertraut hatten, das sie vor allem nutzten, um Geldübertragungen in ihr Ursprungsland an Angehörige zu organisieren. Mit der Auswahl dieser Bank hatten sie allerdings Pech. Das in mehreren Ländern tätige Konsortium Al Barakaat steht nämlich unter Verdacht, in die Finanzierung der terroristischen Netzwerke von Al-Qaida verwickelt zu sein. So wurden auch ihre drei Namen durch Beschluss des UN-Sicherheitsrats in eine Liste von Personen, Gruppen oder Organisationen aufgenommen, deren Vermögenswerte umgehend einzufrieren sind. Da die Europäische Union diesen Beschluss durch eine Rechtsverordnung umgesetzt hatte, gelten diese Beschlüsse automatisch für Schweden. Das Ergebnis war, dass die drei über ihr Erspartes, immerhin soll es dabei um gut 100.000 Dollar gegangen sein, ab sofort nicht mehr verfügen konnten.
„Doch wo gehobelt wird, fallen eben Späne“, könnte man sagen, schließlich kommt es bedauerlicherweise immer wieder vor, dass Unschuldige mit betroffen sind, zumal, wenn es – wie beim Einfrieren von Geldern des Terrorismus Verdächtiger – schnell gehen muss. Sollen sie doch klagen! Und wer wollte da im Ernst behaupten, ausgerechnet schwedische Staatsbürger bekämen nicht das Recht, das ihnen als Betroffene zusteht? So dachten auch die drei, wenigstens am Anfang. Inzwischen wurden sie allerdings eines Besseren belehrt. Ihr Anliegen vertraten die besten Anwälte Schwedens, und es sorgte sogar für lebhafte Debatten im schwedischen Reichstag, die New York Times berichtete ausführlich und selbst im Europäischen Parlament wurde, auf Initiative der Fraktion der Vereinten Linken, eine Anhörung zu ihrem Fall durchgeführt.
Bei dieser Anhörung kam erstaunliches zutage. Als der amerikanische UNO-Botschafter im Sanktionsausschuss der Vereinten Nationen die vom CIA zusammengestellte Liste präsentierte, saß kein schwedischer Vertreter mit am Tisch. Wäre der schwedische UNO-Botschafter informiert gewesen, so hätte bereits dort sagen können, wie er es der New York Times später gegenüber tat, dass es sich bei den Betroffenen um „sehr respektierte Persönlichkeiten in der schwedischen Ausländergemeinde“ handelt, „die sich nie etwas zu Schulden kommen ließen“. Doch er wusste ja nichts davon, dass seine Landsleute auf die Liste geraten waren. Allerdings hätten ihn die drei Botschafter der im Sicherheitsrat vertretenen EU-Länder, Frankreich und Großbritannien und als nichtständiges Mitglied Irland, darüber informieren können, doch soweit reicht eben die europäische Solidarität noch lange nicht.
So nahm das Verhängnis für die drei Schweden seinen Lauf. Daran änderte sich auch nichts durch den Umstand, dass sich nun die Europäische Union in die Umsetzung dieses UN-Sicherheitsratsbeschlusses einschaltete. Eigentlich wäre dies gar nicht nötig gewesen, da alle EU-Mitgliedstaaten auch UN-Mitgliedglieder sind und sie demnach direkt Entscheidungen des Sicherheitsrates Folge zu leisten haben. Doch in Brüssel wollte man nach den Anschlägen in den USA Handlungsfähigkeit und Kooperationsbereitschaft gegenüber der westlichen Vormacht bei der Terrorismusbekämpfung zeigen. Um aber hier überhaupt eine Zuständigkeit für die Europäische Union begründen zu können, erklärte man juristisch spitzfindig, dass man tätig werden müsse, „um die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen“ zu vermeiden, da das Einfrieren von Konten aus Sicht der EU nun einmal eine Einschränkung des freien Kapitalverkehrs und damit eine Angelegenheit des Binnenmarktes sei. Mit Hilfe dieser gewagten Konstruktion war es möglich, eine in den Mitgliedsländern direkt wirksame Verordnung zur Umsetzung des Sanktionsbeschlusses zu erlassen. Ganz nebenbei hatte man sich damit ein eigenes Instrument geschaffen, mit dem auch unabhängig vom UN-Sicherheitsrat vorgehen kann. Und tatsächlich ist die ursprüngliche Sanktionsliste der Vereinten Nationen inzwischen durch in Brüssel vorgenommene Ergänzungen zu einer ganz eigenen, europäischen geworden.
Die Übernahme der UN-Liste ging mit einer für die EU ansonsten ungewohnten Geschwindigkeit vor sich. Auf seiner Sitzung am 10. Dezember 2001 hatte der „Europäische Rat Allgemeine Angelegenheiten“ den Wunsch geäußert, „dass ihm vor Jahresende die ersten Listen mit den Namen der Personen, Gruppen oder Organisationen vorgeschlagen werden sollen“. Am 27. Dezember 2001, also zwischen den Feiertagen (!), wurde dann diese Liste im Umlaufverfahren von den Regierungen der Mitgliedsländer abgenickt.
Zwar wurde anschließend auch das Europäische Parlament damit befasst, doch wie sollten die Parlamentarier zu einer dreizehnseitigen Liste von Personen, Gruppen oder Organisationen, deren Namen kaum jemand vorher gehört hatte und über deren Verwicklung in den Terrorismus erst Recht niemand etwas sagen konnte bzw. wollte, innerhalb weniger Stunden Stellung nehmen? Allein die Abgeordneten der Vereinten Linken entzogen sich dieser Farce von vorgetäuschter parlamentarischer Kontrolle.
Doch im Unterschied zu der unverzüglichen Aufstellung der Liste war der Rat bei der Gewährleistung des Rechtsschutzes weniger flink. Hierzu erklärte er lediglich in seinem Beschluss vom 10. Dezember 2001 „dass er für den Fall, dass die in den genannten Artikeln erwähnten genauen Informationen bzw. Inhalte von Dossiers aus Drittländern stammen, insbesondere die Übereinstimmung des Dossiers mit der Achtung der Grundsätze und den grundlegenden Verfahren der Rechtsstaatlichkeit, der Wahrung der Menschenrechte sowie insbesondere mit dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf Zugang zu einem unparteilichen Gericht, der Unschuldsvermutung und dem Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden, prüfen wird.“ Was mit anderen Worten nichts anderes heißt als: Die Sanktion in Form des Einfrierens der Konten, wird erst einmal erlassen und erst anschließend macht man sich Gedanken, ob die Betroffenen überhaupt einen und dann welchen Rechtweg zur Überprüfung dieses Eingriffs wählen können. Ein rechtsstaatlich mehr als bedenkliches Verfahren!
Aufgrund des Fehlens einer Klagemöglichkeit, blieb den betroffenen Schweden daher nichts weiter übrig, als den UNO-Sanktionsausschuss flehentlich zu bitten, sie wieder von der Liste zu streichen, denn laut Satzung des Sanktionsausschusses kann er „in bestimmten Fällen aus humanitären Erwägungen von einem Einfrieren der Gelder abzusehen“. Tatsächlich wurden schließlich nach monatelangen Verhandlungen zwischen Schweden und der UNO bzw. den USA zwei der drei Betroffenen am Ende wieder von der Liste genommen. Auch von der Liste der EU nahm man sie gnädigerweise wieder herunter. Der dritte Betroffene kämpft allerdings bis heute noch um sein Recht.
Von den Sanktionen betroffen waren aber nicht nur die drei Schweden selbst. In der Logik der Maßnahmen zum Einfrieren der Konten liegt, dass die benannten Gruppen, Organisationen und Personen auch nicht mit den Geldern anderer finanziert werden sollen. In der EU-Verordnung heißt es ausdrücklich, dass ihnen weder „Gelder und andere finanzielle Vermögenswerte oder Ressourcen weder direkt noch indirekt zur Verfügung gestellt werden oder zugute kommen“ dürfen. Die schwedischen und europäischen Politiker, die mit zum Teil großzügigen Spenden dafür gesorgt hatten, dass die Betroffenen Schweden wenigstens ihren notwendigsten Lebensunterhalt bestreiten konnten, haben demnach ganz offiziell gegen den Sanktionsbeschluss der UNO als auch gegen die Verordnung der Europäischen Union verstoßen.
Ging es für zwei der drei betroffenen Schweden am Ende aufgrund des entstandenen großen öffentlichen Drucks noch einmal glimpflich aus, so können dies so manch andere, die ebenfalls auf die Listen derer mit einzufrierenden Konten gesetzt wurden, leider nicht von sich sagen. Und auf diesen Aufstellungen finden sich inzwischen längst nicht mehr allein nur Personen oder Organisationen, die in einen Zusammenhang mit den Anschlägen von Al-Qaida des Terrorismus verdächtigt werden. Schon auf der am 11. September 2002 neugefassten Liste des UNO-Sicherheitsrats sind bereits Organisationen aus den verschiedensten Ländern, aus Ägypten, Usbekistan, Somalia, Malaysia und Libyen aufgeführt.
Doch noch weiter geht inzwischen die Europäische Union. Das einmal eingeführte Instrument des Einfrierens der Konten wird gegenwärtig Schritt für Schritt auf immer mehr Personen und Organisationen erweitert. So entschied der Europäische Rat erst am 28. Oktober 2002 auch palästinensische Organisationen wie den Fatah Revolutionsrat, die Palästinensische Befreiungsfront (PLF), die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP), der militärische Arm von Hamas und die Al-Aksa Märtyrer Brigaden aufzunehmen. Diese Organisationen haben sich in der Vergangenheit wiederholt zu Anschlägen in den besetzten palästinensischen Gebieten und in Israel bekannt. Sie selbst verstehen aber diese Aktionen als Teil ihres nationalen Befreiungskampfes. Es dürfte allerdings gewagt sein, sie aufgrund dieses Vorgehens umstandslos in einen Zusammenhang mit den für die Anschläge gegen die USA Verantwortlichen zu bringen. Schon gar nicht ist dies angebracht bei der inzwischen umbenannten türkischen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), der ebenfalls türkischen Volksbefreiungsfront (Dev Sol), der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) oder der Kommunistischen Partei/Neuen Volksarmee der Philippinen (NPA). Doch auch diese Organisationen finden sich inzwischen auf der Sanktionsliste der EU. Man gewinnt dabei den Eindruck, dass vom Europäischen Rat, und damit auch unter aktiver Mitwirkung der deutschen Rot-Grünen Bundesregierung, hinter dem Vorhang des internationalen Kampfes gegen den islamischen Terrorismus mal so nebenbei auch gegen alle missliebigen Organisationen vorgegangen wird, die man schon lange ausschalten wollte. Es werden jetzt alte Rechnungen beglichen.
So war die deutsche Regierung immer daran interessiert, das für Deutschland ausgesprochene Verbot der PKK endlich auch auf die anderen EU-Länder ausdehnen zu können. Den deutschen Sicherheitsbehörden war es immer ein Dorn im Auge gewesen, dass diese Organisation völlig legal und unbehelligt, etwa in den Niederlanden nur wenige Kilometer jenseits der deutschen Grenze, arbeiten konnte. Jetzt ist, Osama bin Laden sei Dank, Schluss damit! Die kurdische Organisation wird zwar nicht gleich EU-weit verboten, sie ist aber in Zukunft wirtschaftlich vollkommen gelähmt, da sämtlichen Gelder,Vermögenswerte oder wirtschaftliche Ressourcen in allen Mitgliedstaaten eingefroren werden müssen.
Eine besondere Rolle bei der Begleichung alter Rechnungen spielt die neue niederländische Rechtsregierung. Sie setzte alles daran, auch die philippinische Kommunistische Partei/Neue Volksarmee, einschließlich ihres in den Niederlanden im Asyl lebenden prominenten Beraters, Jose Maria Sison, auf die Liste der inkriminierten Organisationen zu bringen. Bei dieser Partei handelt es sich um eine maoistisch ausgerichtete Bewegung, die heute in Friedensverhandlungen mit der philippinischen Regierung über ihre Integration in das politische Leben des Landes steht. Verhandlungen, die übrigens unter der Vermittlung Norwegens stattfinden. Das gegen Jose Maria Sison angestrengte Verfahren aufgrund des Vorwurfs „subversiver Umtriebe“ wurde bereits 1994 eingestellt. Wie Vertreter dieser Organisation vor der linken Fraktion in Brüssel schilderten, wurde von der niederländischen Rechtsregierung ein regelrechtes mediales Kesseltreiben gegen sie veranstaltet. In einer Reportage des staatlichen Fernsehprogramms 2Vandaag am 20. August 2002 ist Jose Maria Sison als internationaler Terrorist regelrecht dämonisiert worden. Der Beobachter fragt sich, ob dies möglicherweise mit einer Äußerung des US-amerikanischen Außenministers Colin Powell wenige Tage zuvor, vom 9. August 2001, zusammenhängt. Dabei hatte er die Kommunistische Partei der Philippinen/Neue Volksarmee ausdrücklich als „eine terroristische Organisation“ bezeichnet und ausländische Regierungen aufgefordert, „aktiv zu werden, um deren finanzielle Quellen zu verstopfen und sie in ihrer internationalen Bewegungsfreiheit zu behindern.“ Der Appell hatte offensichtlich Erfolg. Ende Oktober befand sich diese Organisation bereits auf der Liste wieder, die vom Europäischen Rat „im Hinblick auf den Kampf gegen den Terrorismus“ aufgestellt worden war.
Es ist daher unbedingt notwendig, in diese europäische Praxis der wundersamen Vermehrung terroristischer Organisationen und Einzelpersonen mehr Licht zu bringen. Die Linke Fraktion im Europäischen Parlament, und darin die PDS-Abgeordneten, werden auch in Zukunft alles tun, um aufzuklären und für eine Änderung dieser Politik einzutreten.
Quelle:
disput 12/02