Europa: Sozialpolitik? Fehlanzeige!
André Brie, 20. Oktober 2003, Beitrag für die Zeitung „ExtraDrei“
Insgesamt 15 Millionen Menschen sind in der EU von Armut bedroht, 14,3 Millionen offiziell arbeitslos, das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf schwankt von knapp 15.000 Euro in den ärmsten bis zu über 60.000 in den reichsten Regionen. Das sind Daten des europäischen Statistikamtes Eurostat aus den letzten Wochen, die vor allem eines belegen: Eine „Sozialunion“ existiert in der EU ebenso wenig wie eine tatsächlich wirksame Sozialpolitik.
Sicher: Es gibt eine Vielzahl von Gipfelbeschlüssen und Programmen, von Initiativen, Prozessen und „Koordinierungen“, mit denen – zumindest wird dies offiziell erklärt – die soziale Situation in der EU verbessert werden soll. Ein Beispiel dafür ist die „Lissabon-Strategie“, mit der bis 2010 die Vollbeschäftigung in Europa erreicht und Kinderarmut beseitigt werden sollte. Von beidem ist längst nicht mehr die Rede. Die schönen Vorhaben scheitern an der Politik der Mitgliedsländer und der EU-Kommission. Die Hälfte aller weltweiten Privatisierung findet in EU-Europa statt. Soziale Ziele sind (wenn überhaupt) sekundär.
Das heisst aber nicht, dass die EU nicht grundsätzlich die Weichen in der Sozialpolitik stellt, nur eben nicht in eine soziale Richtung: Was in den Dokumenten verklausuliert als „Flexibilisierung des Arbeitsvertragsrechts“ oder als „Modernisierung der Sozial- und Rentensysteme“ angemahnt wird, entpuppt sich in der Realität als gelockerter Kündigungsschutz, als Privatisierung, als Abbau von Sozialleistungen und Kürzungen der staatlichen Altersversorgung.
Letztlich war, ist und bleibt die EU-Sozialpolitik nicht mehr als die Flankierung der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Zwar wurde dabei auch einiges erreicht, wie etwa Mindeststandards beim Arbeitsschutz. Wo solche Bestimmungen aber zu weit gehen, wird abgeblockt. Wo „Wettbewerbsvorteile“ – sprich niedrigere Löhne und Sozialschutz – in Gefahr sind, wird gebremst. Ein Beispiel ist die EU-Grundrechtecharta, die zwar wichtige zivile Rechte fixiert, aber gerade bei der sozialen Sicherung eher unverbindlich und teilweise hinter national bereits bestehenden Regelungen, vor allem aber hinter der Europäischen Sozialcharta des Europarates von 1996 zurück bleibt („Rot-Grün“ hat als eine von 3 EU-Regierungen letztere nicht einmal unterzeichnet).
Gegen den Sozialabbau in Europa ist außerparlamentarischer und parlamentarischer Widerstand nötig. Dass sich dieser entwickelt, zeigen die Massenproteste in Frankreich, in Österreich und Italien im Frühjahr. Auch die Linken im Europäischen Parlament haben sich den Kampf für ein soziales Europa auf die Fahnen geschrieben und sind auf dem Europäischen Sozialforum Mitte November dabei. Mit der Erweiterung am 1. Mai 2004 werden die sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede in der EU noch einmal verdoppelt. Umso mehr muss die Schaffung einer wirklichen Sozialunion zum Ziel europäischer Politik werden.