Europäischer Verfassungskonvent: Kritik an den Vorschlägen des Präsidiums zur Neuregelung der Bereiche Justiz und Inneres

Am 17. März 2003 hat das Präsidium des Verfassungskonvents seine Vorschläge für die Neuregelung des Bereichs Justiz und Inneres vorgelegt. Sie greifen die Grundsatzentscheidung des Konvents auf, den bisher in der sogenannten 3. Säule verbliebenen Bereich der Justiz- und Innenpolitik in die 1. Säule zu überführen. Damit soll die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen vergemeinschaftet werden. Diese Grundsatzentscheidung teile ich.
Das Präsidium hat zu Recht die Forderung der Konventsmitglieder aufgegriffen, die verschiedenen Bestimmungen dieser Politikfelder sowohl zu vereinfachen und zusammenzufassen als auch die Rolle des Europäischen Parlaments aufzuwerten. Bei dem Versuch, die 3. Säule in die 1. Säule zu integrieren, bleibt das Präsidium allerdings auf halbem Wege stehen. Der Entwurf des Präsidiums weist gravierende Lücken und Widersprüche auf. Das mit der Auflösung der Säulenstruktur verbundene Versprechen, einen einheitlichen Rechtsrahmen für alle Politikbereiche der Union zu schaffen, wird nicht eingelöst.
So soll der Rat in einigen Fällen weiterhin als alleiniger Gesetzgeber fungieren, während das Europäische Parlament bei wichtigen Fragen der Justiz- und Innenpolitik außen vor bleibt. Auch vom Initiativrecht der Mitgliedstaaten, das sich in der Vergangenheit nicht bewährt hat, wollte sich das Präsidium nicht verabschieden. Die parlamentarische Einflussnahme und Kontrolle in Bezug auf die Tätigkeit von Europol bliebe nach wie vor unzulänglich.
Um sicherzustellen, dass das Handeln der Union und der Mitgliedstaaten auch in diesem für das Leben der Bürgerinnen und Bürger so wesentlichen Politikbereich in vollem Umfang den Anforderungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gerecht wird, habe ich eine Reihe von Änderungsvorschlägen eingebracht, die von folgenden Prämissen ausgehen:
· Schaffung der Voraussetzungen für eine menschenwürdige Flüchtlings- und Einwanderungspolitik;
· präzise Festlegung der Aufgaben von Europol, Eurojust und Europäischer Staatsanwaltschaft durch die europäischen Gesetzgeber;
· volle Einflußnahme und Kontrolle für das Europäische Parlament;
· volle gerichtliche Kontrolle.

I. Flüchtlings- und Einwanderungspolitik
Die künftige Verfassung der Europäischen Union muss die Weichen stellen für eine menschenwürdige Flüchtlings- und Einwanderungspolitik.
Der im Präsidiumsentwurf enthaltene Verweis auf die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 ist zweifellos zu unterstützen. Zugleich halte ich es aber vor dem Hintergrund der schmerzvollen Erfahrungen der letzten Jahre mit Kriegen und Bürgerkriegen für unverzichtbar, dass die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union darüber hinaus auch die Fälle nicht-staatlicher Verfolgung anerkennt und geschlechtsspezifische Verfolgung sowie die Flucht vor Kriegsdiensten als Fluchtgründe schon in der Verfassung verankert.
In der gemeinsamen Einwanderungspolitik geht es mir darum, klare Regelungen für Einreise- und Aufenthaltsvoraussetzungen zu definieren: für gesicherte Rechte von Drittstaatsangehörigen mit gefestigtem Aufenthaltsstatus in einem Mitgliedstaat der Union; für ihre Freizügigkeitsrechte innerhalb der Union; für die Förderung ihrer Integration. Im einzelnen sind diese Regelungen von den europäischen Gesetzgebern, d.h. vom Europäischem Parlament und dem Rat gemeinsam, zu treffen. Die Verfassungsbestimmungen sollten daher die politischen Handlungsspielräume der Gesetzgeber nicht präjudizieren, zumal die vom Präsidium vorgeschlagenen Vorgaben inhaltlich eindeutig auf Abschottung zielen und z. B. Legalisierungsmaßnahmen gar nicht erwähnen. Deshalb habe ich vorgeschlagen, dass die vom Präsidium in Artikel 12 Absatz 2 erfolgte Hervorhebung einzelner Handlungsinstrumente (Abschiebung und Rückführung) aus den Verfassungsbestimmungen gestrichen werden.

II. Europol, Eurojust und Europäische Staatsanwaltschaft
Die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Bereich der Prävention und Verfolgung von Straftaten wird mit dem Präsidiumsentwurf auf eine neue Grundlage gestellt. Rat und Europäisches Parlament sollen künftig den Aufbau, die Arbeitsweise, den Tätigkeitsbereich und die Aufgaben von Europol und Eurojust per Unionsgesetz festlegen. Die Bestimmungen betreffend die Europäische Staatsanwaltschaft soll der Rat nach Zustimmung des Europäischen Parlaments festlegen. Der damit verbundenen begrüßenswerten Aufwertung des Europäischen Parlaments steht jedoch ein beträchtliches Defizit gegenüber.
So soll Europol nach Artikel 22 Absatz 1 des Präsidiumsentwurfs den Auftrag haben, „die Tätigkeit der Polizeibehörden der Mitgliedstaaten sowie deren gegenseitige Zusammenarbeit bei der Prävention und Bekämpfung der zwei oder mehrere Mitgliedstaaten betreffenden schweren Kriminalität, des Terrorismus und der Kriminalitätsformen, die ein gemeinsames Interesse verletzen, das Gegenstand einer Politik der Union ist, zu unterstützen und zu fördern“. Ähnlich unklar sind die For-mulierungen in Bezug auf Eurojust (Artikel 19 Absatz 1) und die Europäische Staatsanwaltschaft (Artikel 20 Absatz 1).
Die Vorschläge des Präsidiums können m.E. darauf hinaus laufen, es letztlich diesen Unionsbehörden selbst zu überlassen, über die Konkretisierung ihres Auftrages zu entscheiden. Dies würde der Tendenz zu unkontrollierten und unkontrollierbaren europäischen Strafverhütungs- und Strafverfolgungsbehörden Vorschub leisten. Dies ist für mich nicht akzeptabel.
Es muss vielmehr zweifelsfrei ausschließlich den europäischen Gesetzgebern vorbehalten sein, diejenigen Straftaten zu definieren, zu deren Bekämpfung Eurojust, Europol und gegebenenfalls die Europäische Staatsanwaltschaft tätig werden sollen. Daher habe ich vorgeschlagen, die Tatbestände, deren Vorliegen Europol, Eurojust und Europäische Staatsanwaltschaft zum Tätigwerden ermächtigen, durch ein vom Europäischen Parlament und dem Rat zu erlassendes Rahmengesetz festzulegen, das seinerseits den Anforderungen an Bestimmtheit und Rechtsklarheit genügen muss (siehe meine Änderungsanträge zu Artikel 19, 20 und 22). Dies ist erforderlich, um eine schleichende Ausweitung der Tätigkeitsfelder der europäischen Strafverfolgungsbehörden auszuschließen. Darüber hinaus bietet ein solches Herangehen auch die Grundlage für eine wirksame parlamentarische Einflussnahme und Kontrolle sowie einen effektiven Rechtsschutz.
Grundlage dieses Rahmengesetzes könnte Artikel 17 des Präsidiumsvorschlags bil-den. Gleichwohl halte ich auch diese vom Präsidium vorgeschlagene Bestimmung in dreifacher Hinsicht für kritikwürdig.
Ich anerkenne aus oben genannten Gründen die Notwendigkeit, auf europäischer Ebene Straftatbestände zu definieren, um die Tätigkeit der europäischen Strafverfolgungsbehörden einheitlich festlegen zu können. Allerdings kann ich nicht die Notwendigkeit erkennen, für alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union deshalb auch einheitliche Sanktionen für solche Straftaten festzulegen. Hier erfolgt ein Eingriff in die mitgliedstaatliche Souveränität, dem keinerlei europäischer Mehrwert zugrunde liegt.
Entgegen der Auffassung des Präsidiums halte ich außerdem die Aufnahme eines Kataloges einzelner „Kriminalitätsformen“ in einen Verfassungstext für sehr problematisch. Meine Bedenken werden durch den Präsidiumsvorschlag selbst noch bestärkt. Der vorgeschlagene Katalog von „Kriminalitätsformen“ ist in hohem Maße inkonsistent. Er zählt sowohl einzelne Straftaten (z. B. „Fälschung von Zahlungsmitteln“) als auch ganze Gruppen von Straftaten (z. B. „illegaler Waffenhandel“, „Korruption“, „Cyber-Kriminalität“) nebeneinander auf und stellt diese zudem neben besondere und ebenso umstrittene Erscheinungsformen von Kriminalität („organisierte Kriminalität“). Aus all diesen Gründen halte ich die Aufzählung des Präsidiums für wenig hilfreich und kaum handhabbar. Sie birgt die Gefahr von Rechtsunklarheit und Rechtsunsicherheit in einem zutiefst grundrechtsrelevanten Bereich.
Zum dritten plädiere ich dafür, die Zuständigkeitszuweisungen an europäische Strafverfolgungsbehörden auf besonders schwere Straftaten mit grenzüberschreitendem Bezug und auf solche Straftaten zu begrenzen, die ein gemeinsames Interesse verletzen, das Gegenstand einer Politik der Union ist. Die vom Präsidium vorgeschlagene Ausweitung auf Straftaten mit grenzüberschreitender „Dimension“, wobei diese schon aus einem besonderen Bedürfnis der gemeinsamen Verfolgung resultieren soll, teile ich nicht. Die Präsidiumsformulierung widerspricht dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und steht im Gegensatz zum Subsidiaritätsprinzip, wonach ein solches bloßes „Bedürfnis“ keine Grundlage für ein Handeln der Union bilden kann.

III. Parlamentarische Einflussnahme und Kontrolle; Initiativrecht
Über Punkt II. hinaus ist die parlamentarische Einflussnahme und Kontrolle in diesem gesamten Bereich unzureichend. Die Überführung der 3. Säule in die 1. Säule kann natürlich nicht bedeuten, die zwischenstaatliche Zusammenarbeit beizubehalten. Das Präsidium bleibt allerdings genau hier stehen, wenn es bei einer Reihe von Entscheidungen lediglich die Anhörung des Europäischen Parlaments vorschlägt (Artikel 11 Absatz 3, Artikel 14 Absatz 3, Artikel 21 Absatz 3, Artikel 23) bzw. überhaupt keine obligatorische Beteiligung des Europäischen Parlaments vorsieht (Art. X).
Teilweise soll die Beteiligung des EP umgangen werden, indem der betreffende Rechtsakt statt als „Gesetz“ oder „Rahmengesetz“ als „Verordnung“ bezeichnet wird (siehe Artikel 7 des Präsidiumsentwurfs). Die Bezeichnung als „Verordnung“ ändert jedoch nichts daran, dass es bei Artikel 7 um die generelle Regelung der Zusammenarbeit der Behörden der Mitgliedstaaten und folglich um Rechtsakte von allgemeiner Geltung geht, die wie alle anderen Rechtsakte von allgemeiner Geltung im Gesetzgebungsverfahren durch Rat und Europäisches Parlament zu erlassen sind. Der Konvent darf daher diesem „Taschenspielertrick“, die Beteiligung des Europäischen Parlaments durch Umbenennung des Rechtsinstruments umgehen zu wollen, nicht folgen.
Zum Initiativrecht: Das Initiativrecht der Mitgliedstaaten, das das Präsidium in seinem Entwurf aufrecht erhält, hatte vielleicht noch seine Berechtigung, solange die zur Verfügung stehenden Regelungsmechanismen zwischenstaatlicher Natur waren. Diese Besonderheit verliert ihre Berechtigung jedoch vollends mit der Überführung dieses Politikbereichs in die 1. Säule. Zudem hat sich das Initiativrecht der Mitgliedstaaten in der Vergangenheit als wenig tauglich erwiesen. Ich habe dementsprechend die Streichung dieser Bestimmungen vorgeschlagen. Wie in allen anderen Politikbereichen sollte auch hier die Kommission über das Initiativrecht verfügen.

IV. Volle gerichtliche Kontrolle
Das Präsidium sieht in seinem Vorschlag zu Artikel 9 vor, bestimmte Fälle innerstaatlichen Handelns der nationalen Behörden ausdrücklich von der Rechtsprechungsgewalt des Europäischen Gerichtshofs auszunehmen. Eine wie auch immer geartete Einschränkung der gerichtlichen Kontrolle für den Bereich der Justiz- und Innenpolitik ist jedoch inakzeptabel.
Das bedeutet nicht, die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten „für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“ in Frage stellen zu wollen. Der Weg zum EuGH ist ohnehin nur dann eröffnet, wenn es zu einer Überschneidung zwischen dem Handeln der Mitgliedstaaten und dem Anwendungsbereich von Unionsrecht kommt. Sobald aber mitgliedstaatliches Handeln „unionsrechtlich relevant“ ist, ist nicht einzusehen, weshalb der EuGH nicht auch hier über die Einhaltung von Unionsrecht zu wachen haben soll. Dies könnte z.B. relevant werden, wenn ein Mitgliedstaat im Zuge von Beschränkungen des Demonstrationsrechts die von der Union garantierten Freizügigkeitsrechte einschränkt. Daher habe ich beantragt, die Sonderregelung zur gerichtlichen Kontrolle in Artikel 9 des Präsidiumsentwurfs zu streichen.

Im übrigen habe ich beantragt, unnötige Wiederholungen und Verweisungen zu streichen. Sie laufen der Aufgabe des Europäischen Konvents, einen klaren und verständlichen Verfassungstext zu entwerfen, zuwider. Zudem bergen Redundanzen generell die Gefahr von Unklarheiten und damit von Rechtsunsicherheit. Zudem muss klar sein, dass die Grundrechte-Charta auch im Bereich Justiz und Inneres in vollem Umfang zur Geltung kommt. Die vom Präsidium in Artikel 1 vorgeschlagene Formulierung der „Achtung“ der Grundrechte kann daher als Ausnahme vom Grundsatz der umfassenden Geltung der Charta und damit als Einschränkung verstanden werden.